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«Viele Ärztinnen und Ärzte glauben, dass diese Gespräche schwierig sein müssen»

«Viele Ärztinnen und Ärzte glauben, dass diese Gespräche schwierig sein <i>müssen</i>»

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Markus Minder, Chefarzt Palliative Care: «Hätte ich ein metastasierendes Krebsleiden, würde ich nicht bis an mein Lebensende Chemotherapien, Bestrahlungen und Operationen erhalten wollen.» (Bild: sa)

Portrait

Zur Person

Markus Minder ist seit gut einem Jahr Chefarzt für Akutgeriatrie, Langzeitpflege und Palliativmedizin in Affoltern am Albis, zusammen mit Co-Chefärztin Helen Roth. Minder ist 43 Jahre alt, ist verheiratet, hat drei Kinder im Alter von 5, 9 und 11 Jahren und lebt mit seiner Familie in Zollikon.

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07. Februar 2018 / Region
Markus Minder, Chefarzt für Palliativmedizin und Geriatrie, spricht über Gespräche zwischen Arzt und Patient, die sich ums Sterben und den Tod drehen. Die neu überarbeiteten Richtlinien der Schweizerischen Akademie für Medizinische Wissenschaften (SAMW) erachten das Sprechen über Sterben und Tod als zentral. Und auch das kürzlich abgeschlossene nationale Forschungsprogramm «Lebensende» kommt zum Schluss, dass diese Gespräche wichtig sind.
Auf der Website des Spitals Affoltern ist als Ihr Titel «med. pract.» angegeben. Weshalb?

Markus Minder: Weil ich keinen Doktortitel, nie eine Dissertation geschrieben habe, und das ist vermutlich einzigartig. Es gibt wohl nur wenige Chefärzte ohne den Doktor. Es war nie mein Ziel, extra keine Diss zu schreiben, das war bisher in der Medizin nämlich keine allzu grosse Sache. Aber ich fiel während des Studiums nie durch eine Prüfung und wollte die Arbeit auch nicht im vierten Jahr schreiben, auf das keine Prüfung folgte. Nach dem Staatsexamen erkrankte mein Vater schwer und starb schliesslich. Dann hatte ich meine erste Assistenzstelle, darauf folgten nahtlos andere Stellen. Ich wollte nie eine Pro-Forma-Diss schreiben, wie es viele tun. Als ich einmal die Möglichkeit hatte, in einem interessanten Projekt mitzumachen, musste ich schliesslich passen: Mit drei Kindern wäre es zu viel geworden. Dann bin ich Chefarzt geworden. Ich habe dafür zwei Schwerpunkte, Geriatrie und Palliativmedizin, und drei FMH-Titel.

Sie und Roland Kunz sind zwei der ganz wenigen Ärzte in der Schweiz, die auf Geriatrie und Palliativmedizin spezialisiert sind. Sie haben vor gut einem Jahr seinen Chefarztposten in Affoltern am Albis übernommen. Wie lief der Start?

Roland Kunz ist eine wichtige Person für mich, er ist mein Mentor, und ich habe jahrelang eng mit ihm zusammengearbeitet. Er hat inzwischen einen grossen Namen. In der Akutgeriatrie war ich schon gut drin, als er noch Chefarzt war. Die Frage war eher, wie es in der Palliativmedizin laufen wird, und ich muss sagen: Wir sind sehr gut gestartet. Wir haben sogar mehr Patientinnen und Patienten behandelt als im Vorjahr.

Wie bringen Sie Ihren zeitaufwändigen Job in Einklang mit Ihrer Familie?

Anders als bei einer älteren Generation von Ärzten ist es bei mir nicht so, dass ich zu Hause gar keine Aufgaben übernehmen müsste. Das alles unter einen Hut zu bringen, ist ein Auf-und-ab, kein einfaches Thema und wir diskutieren zu Hause viel drüber. Aber letztlich hat sich meine Familie auch ein bisschen damit abgefunden, dass es nun so ist, dass ich einen verantwortungsvollen Job habe, der viel Zeit in Anspruch nimmt.
«Es gibt nicht den richtigen Weg für ein solches Gespräch, sondern man muss sich vom einzelnen Patienten steuern lassen, damit man diese Fragen und eine gewisse Tiefe erreicht.»
Markus Minder, Chefarzt Palliative Care und Geriatrie, Affoltern a. A.

Die neuen SAMW-Richtlinien zum Umgang mit Sterben und Tod, die in der Vernehmlassung sind, heben die Wichtigkeit des Gesprächs über das Sterben hervor. Offenbar fällt es vielen Ärzt_innen schwer, mit ihren Patient_innen über den bevorstehenden Tod zu sprechen. Sind Sie als Leiter einer Palliativstation Profi darin?

Ja, diese Gespräche gehören zu meinem Alltag, und es ist klar, dass sie unheimlich wichtig sind in der Betreuung von Palliativpatientinnen und -patienten. Das heisst aber nicht, dass sie immer einfach sind. Manchmal schon, manchmal werden die Themen Sterben und Tod bereits beim ersten Kontakt angesprochen, und es geht schnell um die Fragen: Was will ich? Was will ich nicht? Was macht mir Angst? Es gibt auch Patienten, die diese Themen gar nicht ansprechen wollen, oder es ergeben sich beklemmende Situationen. Manchmal bin ich als Arzt mit dem Kopf an einem anderen Ort, dann ist es auch schwieriger. Es gibt nicht den richtigen Weg, sondern man muss sich vom einzelnen Patienten steuern lassen, damit man diese Fragen und eine gewisse Tiefe erreicht.

Man muss als Arzt also gut zuhören können?

Auf meinen Visiten, in Patientenkontakten, macht das aktive Zuhören fast den grössten Teil aus.

Was heisst aktives Zuhören genau?

Dass ich mit dem Kopf dabei bin, dass ich herauszufinden versuche, wo der Patient steht, was ihn belastet. Entsprechend hake ich bei gewissen Aussagen nach. Ich muss auch die Emotionen des Patienten mitbeachten. Was passiert, wenn er eine gewisse Aussage macht? Manchmal klingt das gesprochene Wort, als sei alles klar, aber die Mimik sagt ganz etwas anderes. Letztlich muss ich alle Sinnesorgane einsetzen.

Wie lernt man das?

Wir konnten das in der Ausbildung noch nicht lernen. Heutige Medizinstudierende können als Mantelstudium Palliative Care wählen. Neben Vorlesungen besuchen sie auch Palliativstationen, zum Beispiel unsere in der Villa Sonnenberg. Hier üben wir diese schwierigen Gespräche. Ich habe viel von Vorbildern gelernt, im Austausch mit anderen Ärztinnen und Ärzten, Psychologinnen und Psychologen. Ich lerne bei jedem Gespräch dazu, das ich führe. Es gibt auch Kurse, zum Beispiel, wie man eine schwierige Diagnose vermittelt. Ich bin aber davon überzeugt, dass man erst besser darin wird, wenn man es konkret macht.
«Viele fürchten auch, mit Fragen in diese Richtung eine Krise auszulösen. Aber oft ist das Gegenteil der Fall: Man löst gewisse Knoten und Verkrampfungen auf.»

Das heisst, je mehr man solche Gespräche führt, umso besser klappen sie?

Viele Ärztinnen und Ärzte hegen das Vorurteil, dass diese Gespräche schwierig sein müssen. Aber Menschen, die eine unheilbare Krankheit haben, haben sich mit diesen Fragen meistens bereits auseinandergesetzt. Häufig braucht es nur einen kleinen Anstoss, und man ist mitten im Gespräch. Viele fürchten auch, mit Fragen in diese Richtung eine Krise auszulösen. Aber oft ist das Gegenteil der Fall: Man löst gewisse Knoten und Verkrampfungen auf.

Stimmt der Schluss, dass derjenige, der offen über sein Sterben sprechen kann, leichter stirbt?

Das ist ein bisschen verkürzt gedacht. Das Gegenbeispiel wäre ja Elisabeth Kübler-Ross. Die Sterbeforscherin, die sich jahrelang mit dem Thema befasst hat, starb offenbar qualvoll und sehr schwer. Ich weiss auch nicht, was passiert, wenn ich sterbe. Ich gehe aber eher davon aus, dass ich den bevorstehenden Tod einst werde akzeptieren können. Auch Menschen, die überhaupt nicht übers Sterben sprechen wollen, zum Beispiel aus kulturellen Gründen, die können ganz ruhig versterben. Die wissen genau, worum es geht, ohne je darüber gesprochen zu haben. Wenn jemand partout nicht übers Sterben sprechen will, müssen wir das akzeptieren.
«Es ist nicht wichtig, was ich vom assistierten Suizid halte, sondern wichtig ist, dass der Patient weiss, welche anderen Optionen es gibt.»

Tendenziell ist es aber so, dass wenn sich Menschen mit dem Thema auseinandergesetzt haben, wenn sie wissen, was sie wollen und sich zum Beispiel mit der Möglichkeit der Sedation vertraut gemacht haben, falls es eng wird, dann bringt das eine Beruhigung.

Es heisst in den SAMW-Richtlinien, es sei wichtig, dass der Arzt sich über die eigene Haltung bezüglich des Sterbens im Klaren ist. Wie ist das gemeint?

Vor allem, wenn es darum geht, schwierige Entscheidungen zu treffen, ist es als Arzt wichtig zu wissen, was die eigenen Werte und Präferenzen sind. Die Kunst ist dann, sich selbst zurückzunehmen und offen zu informieren. Denn der Patient muss wählen, und es gibt keine falsche Entscheidung. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn jemand den assistierten Suizid als Weg wählt. Es ist nicht wichtig, was ich davon halte, sondern wichtig ist, dass der Patient weiss, welche anderen Optionen es gibt, zum Beispiel Sterbefasten, das Absetzen von lebenswichtigen Medikamenten oder weitere Behandlungsmöglichkeiten in der Palliative Care.

Was ist denn Ihre Position?

Es kommt auf die Situation an. Wenn ich hier und jetzt umfallen und mein Herz stillstehen würde, würde ich mir schon wünschen, dass Sie mich reanimieren. Und dann würde ich auch auf eine Intensivstation wollen, also das volle Programm. Wenn ich aber eine schwere Demenz oder ein metastasierendes Krebsleiten hätte, sähe es ganz anders aus. Bezüglich medizinischer Möglichkeiten wäre meine Tendenz in diesem Fall zurückhaltend: Ich würde nicht bis an mein Lebensende Chemotherapien, Bestrahlungen und Operationen erhalten wollen. Sondern wenn ich sehe, dass es gelaufen ist, würde ich auf eine gute Symptomkontrolle setzen. Ich kann mir auch vorstellen, dass ich Medikamente, die mein Leben verlängern, nicht mehr nehmen würde.

Haben Sie eine Patientenverfügung?

(lacht) Nein, auch kein Advance Care Planning, das um Einiges detaillierter ist. Aber mein Umfeld, allen voran meine Frau, weiss ganz genau, was ich will und was nicht. Das ist ein offenes Thema.

Wie reagieren Sie konkret, wenn eine Patientin sagt, dass sie mit einer Sterbehilfeorganisation aus dem Leben scheiden will?

Ich versuche den Grund herauszufinden und stelle die Frage, ob es alternative Möglichkeiten gibt, dieses Leiden zu lindern. Meine ganz grosse Aufgabe ist es sicher, die vielen anderen Wege aufzuzeigen, und nicht, den assistierten Suizid abzulehnen.
«Häufig kommen Self-Made-Typen, die immer gearbeitet und etwas auf die Beine gestellt haben, überhaupt nicht mit dem Symptom der Fatigue klar.»

Ist es für Sie keine Niederlage, wenn jemand «mit Exit geht»?

(zögert) Eigentlich nein. Es gibt einfach Menschen, die nicht anders können. Es gibt zum Beispiel einen Typ Mensch, der das Symptom der Fatigue fast nicht aushält.

Was ist Fatigue genau?

Die Batterien sind leer, man kann sich auf nichts mehr einlassen, auf nichts mehr konzentrieren, kein Gespräch mehr führen, kein Buch mehr lesen. Das Aufstehen, um auf die Toilette zu gehen, kommt einem Marathon gleich. Man muss plötzlich Hilfe annehmen. Häufig kommen Self-Made-Typen, die immer gearbeitet und etwas auf die Beine gestellt haben, überhaupt nicht damit klar. Sie halten das kaum aus. Dann gibt es andere, die leiden unter einer massiven Fatigue, und es ist kein Problem. Sie können sie hinnehmen und nur noch im Bett liegen.

Wenn jemand den Weg des assistierten Suizids wählt, muss er aber aus Ihrer Station austreten? Oder ist dieser in Ihrem Spital erlaubt?

Auf der Palliativstation nicht, nein. Das entspricht einer Richtlinie des Spitals, über die ich nicht unfroh bin. Es gibt nur ganz wenige Spitäler in der Schweiz, die den assistierten Suizid in den eigenen Mauern zulassen. In der Langzeitpflege sieht es ein bisschen anders aus, auch bei uns: Unter gewissen Bedingungen ist es möglich.

Weil die Menschen im Pflegeheim zu Hause sind?

Genau, das ist auch der wichtige Unterschied. Wenn jemand schon ein bis zwei Jahre in der Langzeitpflege wohnt, und gar kein eigenes Zuhause mehr hat, ist es absurd, wenn er austreten und zum Sterben in ein Hotelzimmer gehen muss.

Wie häufig kommt es vor, dass Ihre Patientinnen und Patienten diesen Weg wählen?

Selten. Es gibt vielleicht Patientinnen, die ich im Laufe ihrer Krankheit einmal betreut habe, und ich erfahre dann, dass sie mit Exit gegangen sind. Aber dass sie direkt von der Palliativstation nach Hause gehen und sich das Leben nehmen, kommt selten vor. Es sind zirka ein bis zwei Fälle pro Jahr. Übrigens hatten wir mehr Leute, die von Exit an uns verwiesen wurden. Die Fachpersonen dort schlagen Patienten vor, sie sollen sich zuerst in einer Palliativstation behandeln lassen, bevor sie ihrem Leben selbst ein Ende setzen wollen. Meistens verschwindet der Wunsch nach assistiertem Suizid bei guter palliativer Behandlung.
«Mit der palliativen Sedation ist es im Übrigen ähnlich wie mit Exit, sie wirkt wie eine Art Versicherung.»

Weshalb ist es wichtig, mit Patientinnen und Patienten, die an einer schweren Krankheit leiden, übers Sterben zu sprechen?

Um herauszufinden, wo sie stehen. Realisieren sie überhaupt, in welchem Stadium sich ihre Krankheit befindet, und was das bedeutet? Wir sollten schwierige Entscheidungen ansprechen: Was tun, wenn es nicht mehr geht? Wollen sie möglichst wach sein? Oder wäre eine Sedation in Ordnung? Wollen sie bei einem Infekt Antibiotika erhalten? Es geht auch darum herauszufinden, ob Ängste vorhanden sind. Häufig ist es ja nicht der Tod, der die Menschen ängstigt, sondern der Weg dorthin, also das Sterben. Nicht selten finden wir plötzlich heraus, dass die Ängste unbegründet sind. Ein Patient zum Beispiel begleitete zwanzig Jahre zuvor seine Mutter in den Tod und bekam dabei das beim Sterben typische Phänomen der Rasselatmung mit. Zwanzig Jahre lang dachte dieser Mann, seine Mutter sei qualvoll erstickt, dabei rührt dieses lautstarke Atmen von einer Speichel- und Schleimansammlung im Mund, Rachen und Halsraum her.

Mit der palliativen Sedation ist es im Übrigen ähnlich wie mit Exit. Sie wirkt wie eine Art Versicherung: Das Wissen, dass wir Patienten etwa bei unerträglichen Symptomen wie Atemnot, Schmerzen oder Angst in einen künstlichen Tiefschlaf versetzen können, beruhigt sie. Meist ist die Intervention selbst gar nicht mehr nötig.

Wie häufig führen Sie denn eine Sedation durch?

Nur bei etwa fünf Prozent der Patientinnen und Patienten, die bei uns sterben.

Insgesamt nehmen palliative Sedationen zu. Kritische Stimmen sagen, sie befänden sich in einem Graubereich: Man befördere Menschen damit aktiv in den Tod.

Ich weiss, dass es diese Aussagen gibt. So wie wir die palliative Sedation aber handhaben, existiert kein Graubereich. Wenn man eine solche korrekt und eben nach den SAMW-Richtlinen durchführt, zum Beispiel also erst, wenn man zig andere Therapien erfolglos probiert hat, und es wirklich aufs Sterben zugeht – wenn der Tod nur Tage bis wenige Wochen bevorsteht –, wirkt sie nicht lebensverkürzend. Dazu gibt es ebenso Studien. Fakt ist: Diese Menschen sterben, und wir beginnen erst in dieser Situation mit der Sedation und nicht umgekehrt.

Welche Schwierigkeiten bringt die Sedation mit sich?

Wenn man eine palliative Sedation einleitet, ist das nie nur die Entscheidung einer einzelnen Person. Nicht der Arzt entscheidet und geht dann nach Hause. Sondern es ist immer eine Entscheidung, die vom interdisziplinären Team getragen wird. Als wir vor acht Jahren mit der Palliativstation gestartet sind, war die Sedation im Team noch häufiger ein Thema. Wir fragten uns, machen wir alles richtig? Oder eben auch: Lösen wir hier etwas aktiv aus, beschleunigen wir etwas? Es ist ganz wichtig, dass das Team, das die palliativen Sedationen macht, Fachwissen darüber und viel Übung darin hat. Sonst gibt es Krisen. Wichtig ist ebenfalls, dass der Patient das will, seine Familie dahintersteht und genügend Zeit hat, sich zu verabschieden. Nur so ist es stimmig.
Es braucht mehrere Gespräche und viel Zeit, um zu dieser schwierigen Entscheidung zu gelangen. Bei einem Karzinom-Leiden ist es meist klar. Bei anderen Krankheiten, zum Beispiel psychischen, sieht es anders aus.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Wir hatten eine Patientin, die kam mit einer schweren Anorexie zu uns auf die Palliativstation, mehrmals. Ihr Leidensdruck war gewaltig, und sie bat uns schliesslich darum, wir sollten sie sedieren. Aber das konnten wir in diesem Fall nicht tun. Diese Frage wurde auch mit der Ethikgruppe abgesprochen. Das kam nicht in Frage.

Es gibt auch immer mal wieder ein Patient, der bei uns eintritt und sofort eine Sedation wünscht. Auch das geht nicht. Zuerst muss man einander und die ganze Krankengeschichte kennenlernen, und dann muss man sicher sein, dass alles versucht wurde, was es sonst noch gibt an Therapien, um das Leben wieder lebenswerter zu machen.
«Es gibt aber immer noch zu viele Spezialisten, die unklar informieren. Sie sagen zum Beispiel: Auf diesem CT sieht man nichts mehr, und die Leute gehen raus und denken, sie seien geheilt.»

Zurück zum Gespräch übers Sterben: Zu welchem Zeitpunkt sollte man es führen?

Das ist völlig individuell. Hier gilt es, den gesunden Menschenverstand einzuschalten. Ich muss immer offen sein dafür, die äusseren Umstände müssen stimmen, zum Beispiel sollte nicht alle zwei Minuten das Telefon läuten, und der nächste Termin in fünf Minuten anstehen. Es muss ruhig sein, ich muss mich hinsetzen. Ausserdem sind wir Ärztinnen und Ärzte nicht die einzigen, die ein solches Gespräch führen können. Vielleicht gelingt es ja dem Seelsorger, der Pflegenden, der Psychologin oder der Sozialarbeiterin besser.

Wenn Patientinnen und Patienten bei Ihnen eintreten, ist ihr Allgemeinzustand bereits schlecht. Zu welchem Zeitpunkt im Verlauf einer unheilbaren Krankheit müsste man dieses Gespräch theoretisch führen?

Bereits der Arzt, der die Diagnose überbringt, sollte sagen, dass man an dieser Krankheit sterben kann. Er sollte das Thema im Verlauf immer wieder ansprechen, schauen wo ein Patient steht, und auf die neuen Situationen eingehen. Das Paradebeispiel ist die Demenz: Ein wichtiger Teil einer Demenzabklärung ist, der Krankheit einen Namen zu geben. Dann können der Patient und sein Umfeld möglichst frühzeitig die wichtigen Fragen klären. Bei einer Demenz stehen nicht nur die Themen Sterben und Patientenverfügung im Zentrum, sondern auch der Vorsorgeauftrag, wer die finanziellen und administrativen Angelegenheiten regelt. Nur so kann die Selbstbestimmung garantiert werden. Verpasst man bei einer Demenz ein solches Gespräch, ist die Urteilsfähigkeit irgendwann nicht mehr gegeben.

In der Onkologie gibt es immer mehr Spezialisten, die sich dieser Wichtigkeit bewusst sind. Leider gibt es aber auch immer noch die anderen, die unklar oder zu optimistisch informieren. Sie sagen zum Beispiel: Auf diesem CT sieht man nichts mehr, und die Leute gehen raus und denken, sie seien geheilt. Dabei sieht eine Fachperson von Weitem, dass das überhaupt nicht stimmt.

Besteht nicht die Gefahr, dass man mit einem klärenden Gespräch jemandem alle Hoffnungen nimmt?

Die Kunst besteht darin, die Menschen realistisch zu informieren und ihnen dennoch Hoffnung zu lassen. Hoffnung ist wichtig, man darf sie nicht zerstören. Gewisse Patientinnen und Patienten hingegen verfolgen bis zur letzten Minute das Ziel, geheilt zu werden. Das ist auch nicht gesund.

Worauf hoffen unheilbar Kranke denn?

Viele trotz gravierender Diagnose auf Heilung. Ich sage dann: Was machen wir, wenn es anders kommt? Wir stellen einen Schlecht-Wetter-Plan auf. So kann ich den Patienten auf schwierige Verläufe vorbereiten.

Neben der palliativen Sedation ist auch das Sterbefasten derzeit in aller Munde. Ist es tatsächlich ein Trend?

Ja, insofern es in der Gesellschaft, in den Medien ein Thema ist. Ich werde häufig darauf angesprochen, was früher nicht oft vorkam. Gleichzeitig existiert das Sterbefasten seit jeher auf dieser Welt. Es gibt auch Kulturen, die es immer praktiziert haben. Es ist eine andere Art von Selbstbestimmung.
«Sterbende Menschen essen und trinken häufig nichts mehr. Das ist aber nicht Sterbefasten, sondern physiologisch bedingt. Wenn man stirbt, hat man keinen Hunger und Durst mehr. »

Wie häufig wollen Ihre Patienten auf diese Weise ihr Leben verkürzen?

Es gibt grundlegende Unterschiede: Erstens essen und trinken sterbende Menschen häufig nichts mehr. Das ist aber nicht Sterbefasten, sondern physiologisch bedingt. Wenn man stirbt, hat man keinen Hunger und Durst mehr. Zweitens verweigern bei schweren Demenzformen die Betroffenen zunehmend jede Einnahme, von Tabletten, von Essen, von Trinken. Hier müssen wir sicher sein, dass dies dem Willen des Patienten entspricht, und nicht etwa Zahnschmerzen oder einem Pilz geschuldet ist. In solchen Fällen sollte das Personal immer wieder zu essen und zu trinken anbieten. Drittens – und das ist ganz etwas anderes – wollen eigentlich gesunde Menschen, die an keiner lebenslimitierenden Krankheit leiden, nicht mehr essen und trinken, um ihr Leben zu beenden. Ihnen muss bewusst sein, was auf sie zukommt.

Ist das qualvoll?

Ja, ich finde schon. Einige Patienten kommen in meine Sprechstunde und äussern diesen Wunsch. Wie beim assistierten Suizid versuche ich herauszufinden, was der Grund dafür ist. Man muss wissen: Das sogenannte Sterbefasten geht nicht schnell, sondern dauert tagelang, zwei bis drei Wochen. Nicht zu essen, ist kein Problem. Der Durst aber ist sehr schwierig auszuhalten. Es braucht einen starken Willen, das durchzustehen. Von den Menschen, die ich begleitet habe, hielt es keiner durch. Alle haben mal getrunken.

Ich bin in dieser Hinsicht sehr froh, um die SAMW-Richtlinien. Denn sie sagen klar: Eine Sedation, um beim Sterbefasten den Durst auszuhalten, ist nicht erlaubt. Denn man würde den Durst ja anders in den Griff kriegen.
palliative zh+sh, Sabine Arnold