«Die Palliativmedizin ist viel grösser als die Radioonkologie», sagte David Blum nach seinem Vortrag auf die Frage, die im Vorfeld seiner Berufung viel zu reden gab. Es gebe historische Gründe, dass seine Stelle an diesem Lehrstuhl angegliedert sei. Mittelfristig könne sich der Fachbereich loslösen von der Radioonkologie. Man müsse mit relevanten Studien aber zuerst beweisen, dass man ein eigenständiger Fachbereich sei. Er sei sicher, dass sein Chef, der Radioonkologe Matthias Guckenberger, ihm nicht in die Forschung hineinreden werde. Blum versicherte den anwesenden Fachpersonen der Zürcher Palliative-Care-Szene: «Es ist wichtig, dass ich für Palliative Care einstehe. Ich fürchte keine Einflussnahme von oben.»
Als es vor einem Jahr um die Besetzung der neu geschaffenen Professur ging, kritisierte Gian Domenico Borasio in der schweizerischen Ärztezeitung (SAEZ) die Anbindung des neuen Lehrstuhls an die Onkologie. Diese mache aus fachlicher Sicht keinen Sinn. In der Schweiz sterben heute die meisten Menschen nicht an einer Krebserkrankung und auch die Palliativpatienten der Zukunft werden andere sein als bisher, nämlich sehr alt, fragil, multimorbid und häufig dement, schrieb Borasio. «Eine klinisch wie akademisch unabhängige Professur für Palliativmedizin an der Universität Zürich wäre ein wichtiges Zeichen für die Zukunft des Fachgebietes und damit für eine gute Versorgung aller schwerstkranken Patienten und ihrer Familien in der letzten Lebensphase.»
Vorwurf und Replik in der gleichen Ausgabe
Klinikdirektor Matthias Guckenberger, Jürg Hodler, der ärztliche Direktor des USZ, und Rainer Weber, Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich (UZH), replizierten in der gleichen Ausgabe: Das Ziel von USZ und UZH sei, die Palliativmedizin zu stärken, «in der Betreuung unserer Patientinnen und Patienten, in Forschung und Lehre wie auch modellhaft in der interprofessionellen und interdisziplinären Zusammenarbeit». Die Ansiedlung der ausgeschriebenen Assistenzprofessur sei historisch gewachsen. «Es handelt sich um eine strukturelle Anbindung, und nicht um eine inhaltliche Fixierung.»
Danach griffen auch Tageszeitungen wie die «Neue Zürcher Zeitung» oder der «Tages-Anzeiger» das Thema des neuen Palliative-Care-Lehrstuhls auf. Ohne diesen Disput hätten sie sich kaum für diese Assistenzprofessur interessiert.
Nun wird also der 43-jährige Palliativmediziner David Blum im Mai diese Stelle antreten. Die Begeisterung für sein Fach war ihm anzumerken. «Das Spannende an der Palliative Care ist, dass auch andere Fächer wie Philosophie, Soziologie oder Ökonomie einbezogen werden können», schwärmte er. «Forschung oder Lehre laufen selten rein medizinisch ab.»
«Während meines Studiums fiel der Begriff Palliative Care nie.» David Blum, Professor für Palliative Care Universitätsspital Zürich
Der 43-Jährige studierte in Zürich Medizin – «während meines Studiums fiel der Begriff Palliative Care nie» –, liess sich am Waidspital zum Internisten ausbilden und, nachdem er seinen Doktortitel in Norwegen erworben hatte, in St. Gallen zum Onkologen. Erst in seiner nächsten Station Hamburg habe er dann richtig palliativmedizinisch zu forschen begonnen.
Blum sprach nach der Generalversammlung von palliative zh+sh über diejenigen Themen, auf die sich sein Interesse bisher vor allem bezog. Sie beginnen alle (mehr oder weniger) mit dem Buchstaben K: Kachexie, Komputer, Kommunikation, Kollaborationen und Klinik.
Mit der Krebskachexie hatte sich schon Hippokrates beschäftigt. Von ihm ist folgende Umschreibung überliefert: «Das Fleisch ist aufgebraucht und wird zu Wasser, die Schultern […] und Oberschenkel schmelzen dahin […] diese Erkrankung ist tödlich.» Eine klar umrissene moderne Kachexie-Definition gab es nicht, so Blum. Zusammen mit anderen Forschenden wälzte er Studien, um schliesslich festzulegen, dass es sich bei der Kachexie um ein multifaktorielles Syndrom des ungewollten Gewichtsverlustes handelt, bei dem vor allem Muskelmasse eingebüsst wird, das nicht durch Ernährungsmassnahmen allein behoben werden kann. Die Kachexie beeinflusst die Lebensqualität, körperliche Funktionen und nicht zuletzt das Überleben. Ausserdem verringert sie die Verträglichkeit von und das Ansprechen auf Chemotherapien. Zwischen 50 und 80 Prozent der Patientinnen und Patienten mit einer fortgeschrittenen Krebserkrankung sind davon betroffen.
«In den nächsten Jahren wird ein Medikament auf den Markt kommen, das gegen Kachexie hilft.» David Blum
In einer Studie, an der Blum beteiligt war, wurden kachektischen Patientinnen und Patienten ein appetitsteigerndes Hormon gespritzt, diese Ergebnisse seien dann sogleich von der Pharmaindustrie überholt worden, erzählte er offen. Er sei jedoch überzeugt, dass «in den nächsten fünf Jahren ein Medikament auf den Markt kommt, das gegen Kachexie hilft». Jedenfalls sei er nach wie vor am Thema Ernährung interessiert.
Unter dem Stichwort «Komputer» stellte Blum Untersuchungen vor, in denen mittels digitaler Hilfsmittel nicht nur systematische Erfassung von Symptomen, sondern auch die Entscheidungsfindung verbessert werden soll. Häufig schilderten Patientinnen und Patienten gegenüber dem Pflegepersonal ihr Leiden viel drastischer als schliesslich den Ärztinnen und Ärzten. Eine computergestützte Erfassung und Entscheidungsfinden verbessere die Behandlung. Wir könnten uns gegen die Digitalisierung nicht wehren, so Blum. «Am Schluss sollte in allen Modellen aber nicht das Computersystem, sondern die Patientin oder der Patient im Zentrum stehen.»
Kommunizieren mit Händen und Kanistern
Spannend war auch, was Blum über «Kommunikation», das dritte K, erzählte: Er forschte ein Jahr am Cicely-Saunders-Institut in England. Dort ging es um Skalen, mit denen Patientinnen und Patienten Schmerzintensitäten selbst angeben konnten. Man verglich zum Beispiel in Afrika gesammelte Angaben über Schmerzintensitäten, die anhand einer Smiley-Skala, den fünf Fingern der Hand oder einem mehr oder weniger vollen Plastikkanister gemacht wurden. Sehr interessiert sei er im Zusammenhang mit Kommunikation auch am Phänomen des Total Pain, das er eher mit Demoralisation denn mit Depression in Verbindung bringe, sagte Blum.
Unter den Stichworten «Klinik und Kollaborationen» machte Blum nochmals klar, dass er zeigen wolle, dass Palliative Care eine eigenständige akademische Disziplin sei. Sie seien zwar Teil einer onkologischen Klinik, würden sicherlich aber auch nicht-onkologisch forschen. Es gehe für ihn nun darum, Forschungsnachwuchs zu gewinnen und einen akademischen Mittelbau aufzubauen sowie sich kompetitiv an Ausschreibungen zu beteiligen. Öffentlichkeitsarbeit stehe für ihn ebenfalls im Zentrum. Blum zeigte sich in der Fragerunde sehr offen, Ideen für Studien entgegenzunehmen und allenfalls in seine Projekte einfliessen zu lassen. Er gab zu bedenken, dass etwa Palliativstationen in unserer Region für Studien zusammenarbeiten müssten, um relevante Forschungsergebnisse zu erzielen.