Acht Prozent der Kinder und Jugendlichen in der Schweiz betreuen eine nahestehende Person. In der Mehrheit sind es die Grosseltern, etwas seltener Eltern, Geschwister oder andere Angehörige, die wegen Krankheit oder Beeinträchtigung nicht mehr selbstständig leben können. Die Verantwortung für Betreuung und oft auch Pflege neben der schulischen Ausbildung zu übernehmen, ist eine Belastung. Die Situation wirkt sich nicht selten negativ auf die Gesundheit, die schulischen Leistungen und den Berufsweg aus. Auch mit dem sozialen Umfeld in Kontakt zu bleiben, wird immer schwieriger – manchmal auch unmöglich.
Verborgenheit als zentrales ElementYoung Carers sind in der Gesellschaft noch weitgehend unsichtbar. Es ist schwierig, sie zu identifizieren und damit auch sie zu unterstützen. Aus Angst, stigmatisiert zu werden, schweigen sie. Und aus Angst vor Sozial- und Jugendamt oder anderen Behörden. «Nur meinem besten Kollegen erzählte ich, was bei mir zu Hause wirklich los ist», sagt eine 14-Jährige im neu erschienenen Careum-Ratgeber. Weitere Bekannte nimmt sie nie nach Hause. «Wenn ich mich mit jemandem treffe, dann gehe ich zu ihm. Mein Schulleben und mein Leben zu Hause sind zwei verschiedene Welten für mich.» Und dann ist da auch noch der Druck, es bei der Arbeit und in der Schule gutzumachen. «Ich fange so um sechs oder sieben Uhr an mit der (Betreuungs-)Arbeit, und am Abend lerne ich bis um ein oder zwei Uhr früh.» Das ist eine Belastung, die psychisch und physisch krankmachen kann. Zu den negativen Auswirkungen gehören Schlafmangel (wenn das Kind zum Beispiel nachts aufstehen muss, um die behinderte Mutter zur Toilette zu bringen), unregelmässige Ernährung, chronischer Stress und Überforderung.
«Ihr habt ein Anrecht auf Hilfe!»Was rät der Fachmann den Young Carers? «Scheut euch nicht, um Hilfe zu fragen, ihr habt ein Anrecht darauf!», richtet Rudolf Schlaepfer, ehemaliger Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, seinen Appell an die Betroffenen. Es gäbe Massnahmen, die individuell eingesetzt werden können je nach Familie, deren Herkunft, nach Krankheit oder Behinderung. «Auf jeden Fall muss der Young Carer unterstützt und nicht ‹ersetzt› werden. Die Befürchtung, dass die kranke Person oder der Jugendliche selbst aus der Familie entfernt werden könnte, ist einer der grossen Hemmschuhe für das «Coming-out».
«Ich würde so vieles gerne machen. Zum Beispiel von zu Hause ausziehen oder eine Ausbildung als Pflegefachfrau», beschreibt eine 22-Jährige, die über Jahre einen Familienhaushalt führen musste, ihre Situation. «Aber mir ist bewusst, dass zuerst viel anderes geschehen muss. Ich muss an meinen Depressionen arbeiten. Ausserdem sollte ich ein wenig von meiner Jugend nachholen.» Und ihr Fazit: «Weil ich nie Zeit hatte, mich mit mir selbst zu beschäftigen, fehlt mir irgendwie der eigene Charakter. Es ist, als wäre das Leben an mir vorbeigezogen – wie im Film.»
Es gibt positive AspekteEine betrübte Sicht auf die Situation von Young Carers sollte nicht dazu führen, die Fähigkeiten und Kompetenzen der jungen Menschen sowie deren Umfeld zu unterschätzen. Es gibt auch positive Aspekte der Unterstützerrolle: Persönliche Reife, Entwicklung eines Verantwortungsgefühls, praktische und soziale Fähigkeiten und Kompetenzen. Viele junge Menschen erleben ihre Aufgabe als bereichernd und entwickeln daraus ein positives Selbstbewusstsein. Gerade die sozialen Kompetenzen sind wertvoll. Diese führen wiederum zum Interesse an sozialen Berufen: So sind im Pflegefachbereich überdurchschnittlich viele Lernende selbst Young Carers gewesen oder sind es immer noch.
Ratgeber und Fachbuch in einemDas Buch «Young Carers – erkennen und unterstützen» ist einerseits ein Ratgeber für Betroffene und ihre Angehörigen. Er liefert viel Wissenswertes für das Kind oder den Jugendlichen selbst. Wie viele Young Carers gibt es? Was charakterisiert sie und welche Aufgaben übernehmen sie? Der Ratgeber zeigt konkret auf, wo sich die Betroffenen Hilfe holen können, etwa in Form einer Toolbox mit Tipps, Hilfsangeboten und Adressen. Anderseits ist die Lektüre auch für Fachpersonen geeignet. Sie bekommen einen Einblick in die Forschungsarbeit, lesen diverse Experten-Interviews und erhalten aktuelle Informationen zum Thema Young Carers - belegt mit Zahlen und Fakten.
Die Vernissage zum Buch «Young Carers – erkennen und unterstützen» findet am Dienstag, 7. Februar 2023 um 17 Uhr im Careum Auditorium an der Pestalozzistrasse 11 in Zürich statt. Mit Rahmenprogramm und Apero. Informationen und Anmeldung unter:
careum.ch/de/agenda/veranstaltungen/vernissage-ratgeber-young-carers