Es ist Sonntagmorgen, 07:05 Uhr. Mein Handy piepst. Auf dem Display sehe ich folgende Nachricht: «Frau L. hat starke Schmerzen im Rücken und im Unterbauch, fühlt sich sehr schlecht. Hat Angst, einen Infekt zu verpassen. Kannst Du sie anrufen um bestmögliches Prozedere zu klären? Sie war vorgestern bei Marc. Lg, Nadja». Nadja ist die Pflegefachfrau, die seit Samstagmorgen für das spezialisierte Palliativteam Pikettdienst hat. Marc ist der Onkologe, der die 55-jährige Frau L. seit Oktober 2014 wegen einem Dickdarmkrebs mit Ablegern in der Lunge und im Bauchfell betreut.
Natürlich hätte ich am Sonntagmorgen gerne noch etwas länger geschlafen. Aber an sechs von sieben Tagen bin ich für schwer- und unheilbar kranke Menschen im Zürcher Oberland auf Pikett. Seit Januar 2017 übernimmt an einem Tag pro Woche eine Oberärztin aus der Palliativstation des USZ den Dienst im ambulanten Bereich und in den Pflegeheimen, telefonisch und bei Bedarf mit Hausbesuchen vor Ort.
Frau L. hängt noch sehr am Leben, freut sich an ihren beiden kleinen Enkelkindern, die vor kurzem zur Welt kamen. Aber sie hat die Nase voll vom Spital.
Ich habe Frau L. vor zehn Tagen im Spital gesehen, anlässlich der gemeinsamen Visite mit Marc. Ich erinnere mich, dass die Urologen wegen Abflussstörung des linken Harnleiters eine Schienung einlegen mussten. Das Risiko eines Infektes, der innert wenigen Stunden zu einer lebensgefährlichen Blutvergiftung führen kann (Urosepsis) ist in solchen Situationen gross. Frau L. hängt noch sehr am Leben, freut sich an ihren beiden kleinen Enkelkindern, die vor kurzem zur Welt kamen. Aber sie hat die Nase voll vom Spital und hat sich vor einer Woche riesig gefreut, wieder in ihre schöne, helle Wohnung auf dem Land zurückzukehren. Auch ihr berufstätiger Mann sieht seine Frau wesentlich lieber zu Hause, wo er neben den gelegentlichen Hilfen noch andere Dinge erledigen kann. Im Spital muss er jeweils passiv am Bett sitzen.
Ich setze mich also in die Küche, trinke einen Kaffee und verbinde meinen I-Pad mit dem Spitalinformationssystem. Ich lese den letzten vierseitigen Spitalaustrittsbericht und sehe, dass der letzte Infekt der Harnwege durch einen multiresistenten Keim verursacht wurde, der mit üblichen Antibiotika nicht behandelt werden kann. Ich suche daher den bakteriologischen Laborbefund des letzten Infektes. Das Antibiotikum, das hier wirksam ist, heisst Invanz. Es muss nur einmal täglich intravenös verabreicht werden und das ist zum Glück auch zu Hause möglich. Man findet das Antibiotikum in keiner Apotheke, jedoch im Spital. Ich lese auch den Eintrag des Onkologen vom letzten Freitag. Er hat bereits einen Anstieg der Entzündungswerte im Blut beobachtet, wollte aber mit Antibiotika noch zuwarten.
Die palliative Versorgung zu Hause befindet sich im mühsamen Aufbau, der mit den Leistungskürzungen in diesem Bereich im Keim erstickt werden.
Um 07:23 Uhr rufe ich Frau L. an, um mir die aktuellen Probleme und vor allem ihren Wunsch, nicht schon wieder ins Spital einzutreten, schildern zu lassen.
Um 07:32 Uhr telefoniere ich mit der Intensivstation unseres Spitals und frage, ob sie Invanz an Lager haben und ob sie fünf Ampullen am Empfang des Spitals deponieren könnten. Das ist möglich, die Verrechnung lösen wir dann nächste Woche auf pragmatische Weise. Um 07:40 Uhr rufe ich die Pflegefachfrau unseres ambulanten Teams an, die vor zehn Minuten den Pikettdienst übernommen hat. Sie wurde von Nadja grob über die Patientin informiert. Ich erkläre ihr, dass sie nun im Spital vorbei fahren sollte, die Antibiotika-Ampullen am Empfang abholen kann, bei der Patientin zuerst eine Urinkultur abnehmen muss, danach den Port-a-cath (ein eingebauter Zugang zum Venensystem) anstechen soll, um Blut zu entnehmen, und dann Antibiotika, Schmerzmittel und Mittel gegen Übelkeit intravenös verabreichen soll. Sie macht sich gleich auf den Weg. Ich schreibe inzwischen die ärztliche Verordnung auf meinem I-Pad, schicke diese per E-Mail an die Pflegefachfrau und kopiere sie auch in die elektronische Patientenakte. Auf dem Spitalinformationssystem öffne ich die elektronische Laborbestellung und setze bei den relevanten Analysen ein Häklein.
Um 07:59 Uhr trinke ich meinen inzwischen kalten Kaffee aus und verrechne zehn Minuten Telefonkonsultation, eine Notfallpauschale und 45 Minuten «Leistungen in Abwesenheit des Patienten». Nochmals zu schlafen lohnt sich nicht. Ich stehe auf und hole für meine Familie Zopf in der Bäckerei.
Nach unserem Telefonat macht sich die Pflegefachfrau auf den Weg. Ich schreibe inzwischen die ärztliche Verordnung, schicke diese an die Pflegefachfrau und kopiere sie auch in die elektronische Patientenakte.
Am Nachmittag logge ich mich nochmals ins Spitalinformationssystem ein, um die Laborwerte zu kontrollieren. Ausser den gegenüber Freitag stark gestiegenen Entzündungswerten sehe ich keine alarmierenden Resultate, die noch eine Massnahme erfordern würden. Am Abend erhalte ich von der Pflegenden eine SMS mit einem Foto einer glücklichen Patientin. Die Schmerzen seien noch nicht gut, aber es gehe ihr viel besser. Erbrochen habe sie nicht mehr im Verlauf des Tages.
26. November 2018
Wäre heute der 26. November 2018 und die neue Tarmed-Bestimmung bereits in Kraft, so hätte ich allein am Sonntagabend bereits über 30 Minuten gratis gearbeitet für diese Patientin, denn ich könnte nur einen Teil der Zeit, die ich aufgewendet habe, verrechnen. Und wie würde ich das Telefon mit dem Onkologen am Montagmorgen abrechnen? Ich muss mit Marc klären, ob man die von ihm geplante onkologische Therapie nicht besser pausieren soll. Ich möchte mit ihm auch besprechen, wer mit der Patientin erneut das Therapieziel klärt. Was steht nun im Vordergrund – noch Leben verlängern oder Leiden lindern? Wie weit möchte Frau L. in Anbetracht des weit fortgeschrittenen Tumorleidens noch gehen, falls die Antibiotika nicht greifen? Würde sie doch nochmals ins Spital eintreten, sogar auf die Intensivstation bei einer Blutvergiftung? Welche Chancen hätten diese Therapien, wo sind die Grenzen der medizinischen Möglichkeiten, mit welchen Risiken und Nebenwirkungen ist zu rechnen?
Solche Fälle sind für eine_n Palliativmediziner_in nicht die Ausnahme, sondern die Regel.
Ich muss auch mit der Hausärztin telefonieren und klären, welche Rolle sie in Zukunft übernehmen kann. Mit unserer Pflege und der Spitex muss geklärt werden, wer sich um die sozialen Aspekte kümmert, falls Frau L. bettlägerig wird und ihr Ehemann die Arbeit nicht unterbrechen kann. Es werden in den nächsten Wochen also noch mehrere Stunden von Leistungen in Abwesenheit der Patientin anfallen.
Solche Fälle sind für eine_n Palliativmediziner_in nicht die Ausnahme, sondern die Regel. In den durchschnittlich 72 Tagen, über die wir schwerkranke Menschen zu Hause betreuen, fallen rund zweieinhalb Stunden Leistungen in Abwesenheit des Patienten an. Bei den einen viel weniger, bei den anderen aber auch viel mehr. Der Gesundheitszustand der Betroffenen wechselt innerhalb kurzer Zeit und erfordert immer wieder Evaluationen, Besprechungen mit Patientinnen und Angehörigen, erneute Entscheidungsfindung und Anpassung der Betreuungsziele und Behandlungen auf den verschiedenen Ebenen. Es versteht sich von selbst, dass der Koordinations- und Abstimmungsbedarf extrem hoch ist – auch in Abwesenheit des Patienten. Die Vergütung für diese Leistungen in Abwesenheit des Patienten wird mit der neuen Tarmed-Regelung auf maximal 30 Minuten in drei Monaten gekürzt werden. Dort, wo 73 Prozent der Schweizer Bevölkerung ihren letzten Lebensabschnitt verbringen möchten, nämlich zu Hause, kann mit dem Tarif, der ab 1.1.18 gilt, keine Palliativmedizin mehr angeboten werden.
Der Gesundheitszustand der Betroffenen wechselt innerhalb kurzer Zeit. Der Koordinations- und Abstimmungsbedarf ist darum extrem hoch – auch in Abwesenheit des Patienten.
Mobile Palliative-Care-Teams werden in der Strategie Palliative Care von Bund und Kantonen flächendeckend gefordert. Soweit sind wir noch lange nicht, der Bedarf an mobilen Palliativteams ist nach wie vor gross und noch immer fehlt es verschiedentlich an Ressourcen. Die (verhältnismässig wenigen) Ärzte, die sich auf Palliativmedizin spezialisiert haben, arbeiten grösstenteils stationär in Kliniken und nicht ambulant. Die palliative Versorgung zu Hause befindet sich im mühsamen Aufbau, der mit den Leistungskürzungen in diesem Bereich im Keim erstickt werden. Jene wenigen Palliativmediziner_innen nämlich, die ambulant tätig sind, müssen nun eine Einkommensreduktion von 20 bis 30 Prozent in Kauf nehmen. Ihr Verdienst bewegt sich heute an der untersten Grenze der Einkommen von Hausärzten. Die ärztlichen Stellen in mobilen Palliative-Care-Teams zu besetzen, könnte mit dieser Entwicklung verunmöglicht werden.
Frau L. wäre ohne meine Hilfe mit absoluter Sicherheit wieder im Spital gelandet und hätte dort Kosten von mindestens 10‘000 Franken verursacht.
Schade, dass die besondere Situation von Palliativpatienten und –patientinnen in der neuesten Tarmed-Revision überhaupt nicht berücksichtigt wurde. Die Limitationen für Leistungen der Koordination und Organisation der Betreuung bei schwerkranken Menschen wären nicht nötig gewesen. Erfahrungen aus der Schweiz und verschiedene internationale Studien zeigen, dass die etwas höheren Kosten im ambulanten Bereich durch massive Kosteneinsparungen im stationären Bereich um ein Mehrfaches kompensiert werden. Frau L. wäre ohne meine Hilfe mit absoluter Sicherheit wieder im Spital gelandet und hätte dort Kosten von mindestens 10‘000 Franken verursacht.