Während im letzten Jahrtausend der Umgang mit Krankheit und Tod religiös geprägt und auch reglementiert war, definierte Rituale und Bräuche zur Verfügung standen wie etwa Salbung und Aufbahrung, hat im letzten Jahrhundert eine Zurückdrängung von Krankheit und Tod stattgefunden, die bis zur Unsichtbarkeit für die Öffentlichkeit führte. Grund dafür war einerseits, dass die Kirchen im Zusammenhang mit der Säkularisierung, also der Verweltlichung, einen Deutungsverlust erlitten haben. Andererseits spielte aber auch die Ausdifferenzierung der Gesellschaft eine Rolle: Der Umgang mit dem Sterben erfolgte in der Spätmoderne in individuellen, subjektivierten Formen im Privaten (Heller/Wegleitner, 2017).
Fortschritte der modernen Medizin weckten zudem Allmachtsphantasien: Dem Krebs wurde 1971 vom amerikanischen Präsidenten Richard Nixon Krieg erklärt mit dem Ziel, die Krankheit auszulöschen. Krankheit und Tod wurden in spezialisierten Institutionen verschlossen und mehr und mehr mit einem Tabu belegt. Thomas Bernhard wurde im Krankenhaus in ein Badezimmer geschoben, welches als geheimes Sterbezimmer diente, wie er eindrücklich in seinem autobiographischen Roman «Der Atem» schildert.
In diese Verdrängung und dieses Schweigen hinein, konnte Fritz Zorns Aufschrei und Anklage im Roman «Mars» auch seine grosse Resonanz entwickeln, dass seine Stimme eine der lautesten der 80er-Jahre-Bewegung wurde. Sein Buch ist auch eine der ersten Krebsbiographien, danach sollten unzählige Bücher Krebskranker folgen, bis zuletzt auch eine Biographie der Krebskrankheit an sich ein Beststeller wurde.
Ist meine Krebserkrankung privat, wenn es meine Ferien nicht mehr sind? Wer nimmt an meinem Sterben teil, wer an der nächsten Party?
Mit einem in diesem Jahrtausend stattfindenden kulturellen Wandel, den wir hier etwas beleuchten wollen, und der Digitalisierung drängen Krankheit, Krebs und Tod in unterschiedlichen Formen wieder an die Öffentlichkeit. Das mag unter anderem an der sich verschiebenden Grenze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit liegen, die mit der Ausbreitung des Internets und dem Aufkommen der sozialen Medien einhergeht. Ein Stillstand dieser Grenzziehung ist nicht abzusehen. Ist meine Krebserkrankung privat, wenn es meine Ferien nicht mehr sind? Wer nimmt an meinem Sterben teil, wer an der nächsten Party?
Während Thomas Bernhard und Fritz Zorn, der eigentlich Fritz Angst hiess, noch als Narzissten und Provokateure verpönt wurden, gehört ein Blog über die Krebskrankheit zumindest für junge Patientinnen und Patienten schon beinahe zur Krankheitsverarbeitung dazu und kann als eine Art selbstdurchgeführte Würdetherapie gelesen werden (Chochinov, Dignity Therapy, 2005).
Wenn eine kranke Person über ihre Krankheit schreibt, wird diese objektivierbar: Das gesunde Ich schreibt über das kranke Ich. Die Integrität und somit die Würde des kranken Menschen erfährt in diesem Prozess eine Art Heilung: «In der schreibenden Gestaltung [aber] kann man, und sei es nur vorübergehend, ein Stück der verlorenen Autonomie wiedergewinnen» (Caduff, Szenen des Todes). Daneben spielt der tröstliche Zuspruch der Community, das Aufgehobensein in ihr, ebenfalls eine wichtige Rolle. Fritz Zorn würde heute in der Polyphonie der Krankheit und des Todes kaum mehr Gehör finden.
Sterben in Echtzeit und mit Cliffhanger-Momenten
Einer der bekanntesten Blogs war «Arbeit und Struktur» (2010-2013) von Wolfgang Herrndorf, der autobiographisch sein Dasein mit einem Glioblastom schilderte. Zorns Anklage an die bürgerliche Gesellschaft ist einer individualistischen Gelassenheit gewichen: «Warum denn nicht ich? Willkommen in der biochemischen Lotterie.» Wut richtet sich nur noch gegen Vereinnahmungsversuche und Ratschläge von Institutionen wie Staat und Kirche («zweistelliger IQ»; «Komplett Enthirnt»). Die Deutungshoheit über sich und die Krankheit zu gewinnen, scheint ein zentrales Motiv solcher Bücher und Blogs, neben dem Wunsch als Mensch etwas Anderes zu hinterlassen, als nur Atommüll, wie etwa Henning Mankell in seiner Krebsautobiographie schreibt.
Im Gegensatz zum Buch kann in Blogs heute die Krankheitsgeschichte in Echtzeit miterlebt werden. In Phasen, in denen nicht geschrieben wird, wie etwa beim Warten auf das nächste Untersuchungs-Ergebnis, kann es sein, dass sich Suspense aufbaut und es Cliffhanger-Momente gibt, in denen man bangt, ob es wieder einen Eintrag geben wird, oder ob der Verfasser oder die Verfasserin schon verstorben ist.
Gerade das soziale Netzwerk Facebook (FB) macht es seinen Nutzerinnen und Nutzern durch die einfache Handhabe leicht, ein solches Krebs-Tagebuch zu führen. Unter dem Titel «Julie vs. Bill» kämpft zum Beispiel – im Wortsinn – die 34-jährige Julia Geberth gegen ein metastasiertes malignes Melanom. Der Account-Name spielt auf den Film «Kill Bill» von Quentin Tarantino an, als Bösewicht Bill bezeichnet Geberth den Krebs. In der Logik des Krieges oder Kampfes gehören ihre gut 8800 Fans auf FB (Stand 18.10.2019) zum «Team Julie».
«Palliativ ist ein Stempel, den mir die Ärzte aufdrucken, für mich bedeute der Begriff nichts.»
Julia Geberth, Krebsbloggerin
Die explizite Kampfmetapher ist unter den Krebsbloggerinnen und -bloggern verbreitet; andere Konten heissen etwa «Krebskriegerin», «Always Keep Fighting» oder «Kick Cancer Chick». A propos Deutungshoheit: Obwohl Julia Geberth wegen ihrer fortgeschrittenen Krankheit weder arbeiten noch studieren kann, lässt sich die junge Frau nicht in die Schublade «palliativ» stecken, wie sie in einem Podcast sagt: «Palliativ» sei ein Stempel, den ihr die Ärzte aufdrucken würden, für sie bedeute der Begriff nichts (Krebsgeflüster mit Julie, Folge 15).
Nicht alle Krebsbetroffenen sagen ihrer Krankheit den Kampf an. Es gibt im Netz durchaus auch Beispiele, die liebevoll scherzend mit ihrer Erkrankung umgehen: Zum Beispiel bezeichnete der im Frühling 2019 verstorbene Blogger Benni Wollmershäuser sich selbst scherzhaft als «Krebsi» oder als «Beuteltier», weil er wegen seines Darmkrebses einen künstlichen Darmausgang hatte.
Andere gehen mit ihrer positiven Deutung noch weiter. Kathrin Täschler, eine 2017 verstorbene Zürcherin, freundete sich gar mit dem Krebs an, wie sie im Palliaviva-Blog zu Protokoll gab: «Am Anfang war er der Feind, dann mein Gegner. Jetzt ist er mein Freund.» Die Krankheit habe sie näher zu sich selbst gebracht. Sie gehe seit ihrer Diagnose vermehrt ihren Bedürfnissen nach, schätze das Leben mehr und sehe es mit liebevolleren Augen.
Menschen, die im öffentlichen Raum des Internets über ihre Krankheit, über ihr Sterben schreiben, wollen damit ihre Selbstwirksamkeit aktivieren, sie wollen etwas hinterlassen und sich in einer virtuellen Selbsthilfegruppe austauschen. Häufig ist ihr Ziel auch, eine Sensibilisierung der Community. Ganz altruistisch verstehen sie sich als Botschafterinnen und Botschafter für eine gute Sache, zum Beispiel für die Früherkennung von Darmkrebs. Wollmershäuser zum Beispiel wurde im realen Leben für seine Aufklärungsarbeit mit dem Felix-Burda-Award ausgezeichnet. Sein Account «Cancelling Cancer – kein Weg zu weit» ist immer noch von 47'000 Userinnen und Usern abonniert.
Neben «Sex sells» gilt eben auch «Death sells».
Dass man mit Geschichten über Sterben und den Tod Leserinnen und Leser gewinnen kann, ist im Journalismus wohlbekannt. Neben «Sex sells» gilt eben auch «Death sells». Blogs und Online-Plattformen wie «Dein Adieu», «Letzte Reise» oder «Sterben üben» buhlen um die Aufmerksamkeit eines begrenzten Publikums, auch wenn sie aufklärerische oder gemeinnützige Ziele verfolgen.
Im Wildwuchs von Accounts und Plattformen, die täglich live gehen, sind auch Auswüchse möglich. Das zeigt der Fall der Australierin Belle Gibson. Die Foodbloggerin und Influencerin behauptete nicht nur, sie leide an einem Hirntumor, sondern auch, sie sei durch gesunde Ernährung und alternative Medizin erfolgreich davon geheilt worden. Das wiederum kurbelte den Verkauf ihres Kochbuchs und ihrer App enorm an. Sie soll mehr als eine Viertelmillion Franken damit verdient haben. Ein Gericht verurteilte sie jedoch zur Rückzahlung ihrer Gewinne. Gibson ist nicht die einzige «Cancer Scammerin» (Krebsbetrügerin), die das Internet bisher hervorgebracht hat, und wird auch nicht die Letzte sein.
Viele Leichen, wenig Identität
Die Diversität der Sichtbarwerdung von Krankheit und Tod äussert sich immer weniger in Text, denn in Filmen und Videos: Es gibt Reality-TV-Shows über junge Menschen, die an Krebs sterben («Über meine Leiche») und auffallend viele Youtube-Videos von Söhnen am Bett ihrer sterbenden Väter.
Bestatter, Forensiker und Tatortreiniger sind die Protogonisten von zahlreichen Fernsehserien der letzten Jahre. «Six Feet Under», «Crossing Jordan» oder «Bones» imponieren mit exzessiver Totendarstellung. Das Paradox der gleichzeitigen An- und Abwesenheit, der gleichzeitigen Identität und Identitätslosigkeit der zahlreich präsentierten Leichen, führt zu einer ambivalenteren Haltung die zugleich Vertrautheit aber auch Unbehagen erweckt, schreibt Thomas Macho im Buch «Die neue Sichtbarkeit des Todes». Ebenso ambivalent wie etwa «Six Feet Under» zwischen schwarzer Komödie und Drama angesiedelt ist.
Wenn sich Söhne am Sterbebett ihrer Väter filmen, sei es als eine ganz persönliche Abschiedsgeste, sei es als Normalität im Alltag mit dem Smartphone und Youtube, kollidiert diese Zurschaustellung immer noch mit der bestehenden Kultur der Todesverdrängung. Privates in die Öffentlichkeit zu zerren, wirkt für viele immer noch voyeuristisch.
Neben dem Voyeurismus-Vorwurf, schwingt auch jener des Kommerzes mit: Das Aufploppen der Themen-Blasen Sterben, Tod und Trauer führt ebenfalls zu einer Kommerzialisierung des Phänomens. Es gibt mittlerweile Geschäfte für mexikanischen Todes-Nippes und seit zehn Jahren eine Messe zum Thema Leben und Tod in Bremen, die nun auch in die Schweiz expandieren will.
«Der Tod ist das absolut schwarze Loch, das Rätsel, das Mysterium, das Unbekannte. Sobald es aber gelingt, frei darüber zu sprechen, lässt sich eine unglaubliche reichhaltige Kultur und Reflexion rund um das Thema Tod entdecken.»
Bernhard Crettaz, Soziologe
Alternative Bestatter wie der Deutsche Eric Wrede oder die Amerikanerin Caitlin Doughty verfolgen nicht zuletzt ihr eigenes wirtschaftliches Interesse. Gleichzeitig sind sie einer gesellschaftlichen Bewegung zuzuordnen, die sich «Death Positive» nennt. Ihr erklärtes Ziel ist es, den Tod wieder ins Leben zu integrieren, wozu sich auch viele Akteurinnen und Akteure der Hospiz- und Palliative-Care-Szene öffentlich bekennen. Dazu gehört nicht nur eine selbstbewusste, individualisierte und öffentliche Trauerkultur, sondern auch, sich frühzeitig Gedanken über das eigene Ende zu machen.
Die Beschäftigung mit dem Tod, das Sprechen darüber, hat übrigens ein Schweizer erfunden: Der Walliser Soziologie Bernard Crettaz veranstaltete im Jahr 2000 das erste sogenannte «Café mortel», eine Gelegenheit, sich bei einer Tasse Kaffee über den Tod auszutauschen. In einem Interview sagte er: «[Der Tod] ist das absolut schwarze Loch, das Rätsel, das Mysterium, das Unbekannte. Sobald es aber gelingt, frei darüber zu sprechen, lässt sich eine unglaubliche reichhaltige Kultur und Reflexion rund um das Thema Tod entdecken.»
Bereits 1982 hatte er die Gesellschaft für thanatologische Studien mitgegründet, angeregt von Bestattungsunternehmen wie er selbst sagt, um eine neue Totenkultur zu finden. Die Gesprächsrunden in ungezwungener Kaffeehausatmosphäre finden inzwischen auf der ganzen Welt statt. Im angelsächsischen Raum sind sie unter dem Namen «Death Cafes» verbreitet. Auch in Schweizer Städten gibt es regelmässige Veranstaltungen dieser Art, häufig werden sie von Leistungserbringern der (Palliativ-)Pflege oder der Seelsorge mitorganisiert.
Wir sind gefordert
Wie die Geschichte der Liebe muss die Geschichte des Sterbens auch immer wieder neu erzählt werden. Dabei findet eine Verschiebung von den Urerzählungen, der Mythologie (erzählt) über die Theologie (gedruckt) in die Vielstimmigkeit des Internets statt, in der jeder und jede Held oder Heldin des eigenen Epos werden kann. Die Erzählerinnen und Erzähler ihrer eigenen Geschichte verschieben laufend die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem und eröffnen so einen neuen Raum des Diskurses. Neben dem Wettbewerb um Aufmerksamkeit ist dort auch eine neue Akzeptanz von Sterben und Krankheit feststellbar.
Die Palliative-Care-Community ist daran und herausgefordert sich in diesem vertrauten und doch auch unheimlichen Raum zu bewegen und bemerkbar zu machen.
Dieser Text erschien ebenfalls in der Dezember-Ausgabe des Magazins von palliative ch.