Das «Sterbefasten» scheint sehr gut in unsere Zeit zu passen: In den vergangenen Monaten und Jahren wurde immer häufiger und immer breiter darüber geredet und berichtet, es wurde in relativ kurzer Zeit zu einem Schlagwort. Neu ist das Vorgehen deswegen nicht. Seit der Antike, wo es als «Todesart der Philosophen» galt, kennt man Sterbefasten. Trotzdem gibt es noch sehr wenige belastbare Erkenntnisse dazu. Auch in rechtlicher Hinsicht wurde dem Sterbefasten bisher wenig Beachtung geschenkt, wie die Juristin Bianka Dörr vom Kantonsspital St. Gallen in ihrem Beitrag an der Tagung vom 8. März im Zürcher Volkshaus sagte. Sie besprach zum Einstieg in die Fachtagung die Rechtslage zum Strebefasten, das im Medizinrecht, genauer im Arztrecht, verortet ist. Als oberste Richtschnur gilt dabei die «Patientenautonomie». Und dieses Selbstbestimmungsrecht, so Dörr, gehe durchaus bis zur Entscheidung, das Leben aus eigenen Stücken zu beenden.
«Wichtig aus ärztlicher Sicht ist es, den Patientenwillen zu hinterfragen, ihn zu prüfen.»
Bianka Dörr
Was es dazu braucht, ist eine rechtlich gültige Einwilligung und entsprechend die Urteilsfähigkeit der Patientin oder des Patienten. «Wichtig aus ärztlicher Sicht ist es, den Patientenwillen zu hinterfragen, ihn zu prüfen», so Dörr. Zur Beurteilung der Urteilsfähigkeit, die im Übrigen immer wertend erfolgt, wie Dörr aufzeigte, gehöre auch die Beurteilung der «Willensbildungsfähigkeit» und der «Willensumsetzungsfähigkeit». Was die Ausführungen der Juristin letztlich zeigten: Die Urteilsfähigkeit und der tatsächliche Wille einer Patientin oder eines Patienten müssen sorgfältig geprüft werden, allenfalls auch in einem längeren Prozess.
Die Angst der Kranken und ihrer Angehörigen
Doch wie kommt eine Patientin oder ein Patient überhaupt an den Punkt, an welchem sie oder er einen Sterbewunsch äussert? Josef Jenewein, Psychiater und Psychotherapeut am Universitätsspital Zürich, ging auf die Motive von Sterbewünschen ein. Seine These: «Irgendeine Form von psychischem Stress gibt es meistens, wenn Sterbewünsche aufkommen.» Gemäss verschiedenen Studien stehen hinter Sterbewünschen häufig Schmerzen an erster Stelle. Danach folgen existenzielle Gründe: Angst vor Verlust von Würde und Selbstbestimmung, Gefühle von Sinnlosigkeit und Angst vor Abhängigkeit und Kontrollverlust und davor, für die Angehörigen zur Belastung zu werden. «Trotz guter Palliativbetreuung leiden etwa 20 Prozent der Menschen am Ende ihres Lebens unter Ängsten und depressiven Symptomen», so Jenewein. Aus den verfügbaren Zahlen schliesst Jenewein: «Die Botschaft lautet: Depressionen muss man erkennen und behandeln.» Es könne vorkommen, dass sich dann auch der Sterbewunsch ändere. Studien zeigen, dass insbesondere Menschen mit Depression ihren Sterbewunsch über eine gewisse Zeit mehrmals ändern können.
«Irgendeine Form von psychischem Stress gibt es meistens, wenn Sterbewünsche aufkommen.»
Josef Jenewein
Angst am Lebensende ist gemäss den Ausführungen von Jenewein ein grosses Thema – auch die Angst vor dem Sterben. «Es sagen zwar viele, Angst vor dem Tod oder dem Sterben sei wenig verbreitet. Meiner Erfahrung nach ist das aber nicht so.» Zu den häufigsten Problemen bei Krebspatienten beispielsweise gehören laut Studien tatsächlich Schmerz, Fatigue, Depression und Angst. Angst vor Kontrollverlust, vor Abhängigkeit, Angst vor dem Sterben, das führe automatisch zu emotionalem Stress. «Eine Beschleunigung eines ohnehin absehbaren Sterbens kann dann eben eine Lösung sein, diesen Stress zu beenden», so Jenewein.
Was man gegen Depression und Angs am Lebensende tun kann: Das Würdeerleben der Betroffenen stärken. Jenewein setzt dabei einerseits auf die «Dignity Theapy» (
Würdezentrierte Therapie) und darauf, die Patientinnen und Patienten zu fragen, was für sie denn «Würde heisse». Es gebe immer mindestens einen Faktor, der hier gestärkt werden könne. Am Universitätsspital Zürich führt er mit seinem Team bei Betroffenen die «Dignity Therapy» durch. Erste Ergebnisse zeigen, dass damit der Stress von Patienten und Angehörigen reduziert und ihr Würdegefühl erhöht werden konnte.
Auswirkungen wenig erforschtVorläufige Ergebnisse einer ganz anderen Untersuchung, einer nationalen Befragung, präsentierte die Pflegewissenschaftlerin Sabrina Fehn von der Fachhochschule St. Gallen, wo sie mit André Fringer zusammenarbeitet. In ihrer Einführung ging sie näher auf die Besonderheiten des Sterbefastens – auch «Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeiten FVNF» genannt – ein und erwähnte, dass als «Vorteil» oft die Umkehr-Möglichkeit genannt werde, also die Möglichkeit, das Sterbefasten abzubrechen. «Diese Möglichkeit gibt es nicht unendlich. Irgendwann ist es zu spät», so Fehn. Allerdings könne niemand generell sagen, wann das so sei. In der Regel trete der Tod beim FVNF nach sieben bis 21 Tagen ein. «Wenn er schon früher eintritt, dann liegt es wahrscheinlich an der primären Erkrankung.»
Allgemein hielt Fehn fest: «Die Auswirkungen von FVNF sind bisher kaum erforscht.» Was Fehn zu berichten weiss: Der Weg des Sterbefastens wird von Menschen im hohen Alter häufiger gewählt als von jüngeren Menschen. «Vor allem steigt im Alter der implizite Verzicht an.» Das heisst, dass Menschen auf Nahrung und/oder Flüssigkeit verzichten, ohne ihren Entschluss zu kommunizieren.
Die Frage «Wird ein würdevolles Sterben mit FVNF ermöglicht?» stösst auf grosse Zustimmung.
Aktuell läuft derweil eine Studie mit Angehörigen, die in Interviews dazu befragt werden, wie es ihnen rückblickend bei der Begleitung eines Sterbefastenden ergangen sei. Gefragt werde auch nach Charakteristika der Personen, die einen FVNF durchgeführt haben. Daneben werden derzeit in der Schweiz verschiedene Fachpersonen befragt: Leitungen der ambulanten Pflege, Leitungen der stationären Langzeit-Pflege und Hausärztinnen und Hausärzte. Die vorläufigen Ergebnisse zeigen, dass die Relevanz des Sterbefastens als hoch eingeschätzt wird. Etwa 50 Prozent der 125 Befragungsteilnehmenden sagten zudem, die Relevanz von Sterbefasten werde in ihrem beruflichen Kontext noch weiter steigen. Ein Grossteil der Befragten gab an, sie könnten das Sterbefasten mit ihrer eigenen Weltanschauung vereinbaren, jedoch gaben weniger Befragte an, das Vorgehen sei für sie mit ihrer persönlichen moralischen Vorstellung vereinbar.
Die Frage «Wird ein würdevolles Sterben mit FVNF ermöglicht?» stösst auf grosse Zustimmung und fast alle Befragten sagten, dass die Menschen, die diesen Weg wählten, ein Recht auf professionelle Begleitung und Betreuung hätten.
Wichtig ist ein gutes Netz
Ein eindrückliches Beispiel einer solchen professionellen Begleitung schilderte die Pflegefachfrau Nadja Durrer vom Palliative-Care-Team des GZO Wetzikon. «Es ist eine persönliche, einmalige Geschichte. So wie jede Geschichte einmalig ist», sagte Monika Obrist von palliative zh+sh zur Einleitung. «Aber es gibt darin Aspekte, die in solchen Geschichten immer wieder auftauchen.» Durrer sprach über das Sterbefasten eines 86-Jährigen, der sich für einen FVNF entschieden hatte, ohne dass eine konkrete Krankheitsdiagnose vorgelegen hätte. Es gab Symptome, die er jedoch in seinem Alter und seiner Situation nicht mehr abklären wollte, sondern für sich einen stimmigen Abschluss seines Lebens suchte.
«Die Familie wusste, was auf sie zukommt.»
Nadja Durrer
In Durrers Schilderungen zeigte sich, wie die zu Beginn der Tagung von Bianka Dörr erwähnte Prüfung des Patientenwillens aussehen kann. Durrer führte lange, intensive Gespräche mit der gesamten Familie. Als für alle Beteiligten Klarheit bestand, ging sie daran, ein gutes Netz aufzubauen und die Familie darin zu unterstützen, das auch im privaten Bereich zu tun. «Es braucht ein Palliative-Care-Team, einen Hausarzt, später wurde auch die Spitex beigezogen – und natürlich braucht es Freunde und Familienangehörige, die ihre Hilfe anbieten können.» Wichtig war für Durrer auch: «Die Familie wusste, was auf sie zukommt.» Es wurde ausführlich gesprochen über Vorgänge und Symptome beim Sterbefasten und bereits zwei Tage nach dem Erstkontakt erstellte Durrer mit der Familie einen umfassenden Notfallplan. «Insbesondere im Fall von einem Delir musste ein Vorgehen vorausschauend geplant werden.» Es wurden Massnahmen besprochen, Notfallnummern und Medikation deponiert.
Die wichtigsten Erkenntnisse, die die spezialisierte Pflegefachfrau aus dieser Begleitung teilte, waren die Wichtigkeit einer interdisziplinären Begleitung, die Erreichbarkeit der professionell Begleitenden, möglichst während 24 Stunden, und die Zustimmung der Familie.
Ethische Fragen stellen sich in jedem Fall
Die Pflegeexpertin Ursula Klein Remane von der Fachstelle Palliative Care der Spitex Zürich ging auf die ethischen Aspekte des Strebefastens aus Sicht der Pflege ein. «Für begleitende Fachpersonen stehen mit der Frage "Unterstützen oder davon abhalten?" die Prinzipien Autonomie und Fürsorge einander gegenüber.» Es sei auch nicht immer so klar, wie man das Prinzip «Gutes Tun» realisieren sollte, wenn die Werte «Leben schützen» und «Leiden lindern» miteinander in Konflikt gerieten.
Für Fachpersonen stelle sich manchmal am Anfang die Frage: «In welcher Situation soll ich über die Möglichkeit des FVNF informieren? Gibt es Situationen, in denen ich das von mir aus machen soll?» Sterbefasten sei letztlich kein medizinisches Angebot. Es sei eine Wahl, die ein Mensch für sich treffe. «Unsere Aufgabe ist die Begleitung von Sterbenden, ungeachtet unserer persönlichen Haltung.» Auch die Unterstützung der Angehörigen sei dabei zentral. Für sie gehe die Begleitung beim Sterbefasten häufig mit Ängsten, Schuldgefühlen und Hilflosigkeit einher. «Gelingt es, sie im Umgang mit dieser Situation zu unterstützen, wirkt sich dies vermutlich positiv auf das Erleben des Sterbeprozesses und den Trauerverlauf aus.»
«Unsere Aufgabe ist die Begleitung von Sterbenden, ungeachtet unserer persönlichen Haltung.»
Ursula Klein Remane
Klein Remane stellte am Ende Fragen in den Raum, die sie aus ethischer Sicht im Umgang mit Sterbefasten als wichtig erachtet. «Spielt die Erhaltung der Kontrolle bis zuletzt eine immer grössere Rolle in unserer Gesellschaft? Und warum? Wohin führt das?»
In verschiedenen Workshops wurden anschliessend Aspekte wie spirituelle Fragen, Angehörigenbegleitung, das häusliche Setting oder die ärztliche Sicht vertieft. Am Abend diskutierten auf dem Podium Fachpersonen und Angehörige.