Es ist ein Imperativ, dem man sich im Laufe des Buches immer weniger entziehen kann. «Reden wir über das Sterben» ist die Aufforderung von Kathryn Schneider-Gurewitsch, die sie in ihrem Buch als eindringliches Vermächtnis hinterlassen hat. Als Ärztin, aber auch als Frau, die mehrmals an Krebs erkrankte, zeigt sie ihren Leserinnen und Lesern, welche grossen, komplexen und umstrittenen Fragestellungen das Lebensende aufwirft. «Die Kost ist zum Teil schwer verdaulich», schreibt sie in der Einleitung des 160-seitigen Buches. «Aber ich mute sie Ihnen zu.» Denn nur wer informiert sei, sich seiner individuellen Wertvorstellungen und Bedürfnissen bewusst sei, können qualifiziert Stellung beziehen und Einfluss nehmen.
Tod und Geburt – das Normalste der Welt
«Meine Sanduhr läuft ab», stellt Schneider-Gurewitsch beim Erzählen fest, nur um gleich hinterherzuschieben: «Ihre auch.» An einer anderen Stelle schreibt sie, dass der Tod so sehr an den Rand gedrängt worden sei, dass man ihm nur noch begegne, wenn man ihm nicht entfliehen könne, etwa wenn die Eltern oder Freunde stürben. Oder in Form von Negativschlagzeilen, etwa im Zusammenhang mit Sterbetourismus. Würde der Tod analog zur Geburt als das Normalste der Welt betrachtet werden, erhielte er jenen Stellenwert, den er verdiene: als Abschluss eines jeden Lebens und nicht als Niederlage, der es partout zu entkommen gelte.
Die 2014 verstorbene Ärztin erkrankte mit 37 Jahren an Brustkrebs. Und entschied sich entgegen sämtlicher Ratschläge ihrer Ärzte zu einer radikalen Lösung: einer Brustamputation. Ihr war aufgrund der Erkrankung ihrer Schwester im gleichen Alter klar, dass der Krebs familiär bedingt und ihr Risiko, wieder zu erkranken, deutlich erhöht sein muss. In den 1980er-Jahren war eine genetische Analyse noch nicht möglich. Jahre später zeigte sich, dass sie Trägerin BRCA1-Gen aufweist, also genau jene vererbliche Genmutation, die vermehrt zu Brustkrebs, aber auch zu Eierstockkrebs führt. Bei der – scheinbar – prophylaktischen Entfernung der Eierstöcke zeigte sich, dass bereits zwei invasive Tumore gewachsen waren. Wieder folgte eine Chemotherapie, die allerdings so schlimm war, dass sie nach zähem Ringen mit ihrem Arzt die Therapie nach vier anstatt nach sechs Zyklen abbrach.
«Mir waren alle Aussichten auf ein möglicherweise längeres Leben keine überzeugenden Argumente.» Kathryn Schneider-Gurewitsch
Nur fünf Jahre später, 2009, folgte die nächste Krebsdiagnose: Knochenmarkkrebs. Dieses Mal sicherlich unheilbar. Und einmal mehr entschied sich Schneider-Gurewitsch gegen die von sämtlichen Fachärzten empfohlene Hochdosis-Chemotherapie und die nachfolgende Stammzellentransplantation. «Weil ich angesichts meiner vielen überstandenen Erkrankungen und Chemotherapien ohnehin eine Ausnahme darstellte und nicht durch diese Hölle gehen wollte», erklärt sie im Kapitel über ihre eigene Geschichte. «Mir waren alle Aussichten auf ein möglicherweise längeres Leben keine überzeugenden Argumente, wenn es mir im aktuellen Moment nicht so schlecht ging und ich noch andere, weniger aggressive Optionen hatte.» Ihr Motto: «Lieber ein kürzeres Leben mit der bestmöglichen Lebensqualität, als durch die Hölle zu gehen in der vermutlich falschen Hoffnung, ein bisschen länger zu leben.»
Von Missständen und «Kuschelbehandlung»
Das Buch, das von Schneider-Gurewitschs Mann, einer Freundin und ihrer langjährigen Assistentin bearbeitet und im Limmatverlag erschienen ist, basiert auf den Aufzeichnungen, Notizen und gesammelten Artikel, in denen sich Kathryn Schneider-Gurewitsch mit dem Sterben auseinandergesetzt hat. Einerseits mit dem Fachverständnis als Medizinerin, andererseits aber auch als Mensch, der sein Leben würdig beschliessen möchte. Sie thematisiert eine Fülle an Problemfeldern, Gebieten und Gedanken rund um das Sterben und unterfüttert ihre eigenen Haltungen dazu mit Studien, Artikeln oder Büchern, die sie im Laufe der Jahre gesammelt hat. Ob es dabei um die Kluft zwischen Praxis und Theorie geht, die Rolle des Geldes, Patientenverfügungen oder auch die Hilfe beim Sterben, Schneider-Gurewitsch erklärt die Rolle der Gesellschaft, benennt Missstände beim Namen und geht bisweilen auch mit ihrer eigenen Zunft hart ins Gericht. Etwa dann, wenn Ärzte wenige Tage vor dem Tod noch eine neue Chemotherapie ausprobieren, nur weil dieser eine Patient ja derjenige sein könnte, bei dem sie anschlägt.
Zu Palliativmedizin schreibt sie, diese sei weit mehr als eine «kuschelige Behandlung» und Begleitung für Menschen mit einer unheilbaren Krankheit. Und sie sei nicht nur ein Angebot für todkranke Menschen. Ziel sei es, den Betroffenen ein gutes Leben bis zuletzt zu ermöglichen. «Das heisst noch lange nicht, dass diese bald sterben werden. Entsprechend gibt es für solche Menschen auch Chemo- oder Strahlentherapien, die die Lebensqualität verbessern und die Lebensdauer verlängern können.»
Checkliste zum Umgang mit Sterbenden
Auch Advance Care Planning, das Bedürfnis nach Spiritualität oder die Grenzen des Machbaren werden thematisiert. Im Kapitel «Letzte Geschenke» finden sich nützliche Hinweise dazu, wie man die Sterbephase erkennt und wie man die Sprache von Sterbenden interpretieren kann. Weiter vorne im Buch gibt es eine Checkliste, wie ein seriöses Prognosegespräch ablaufen kann. Beim Schreiben nimmt die Autorin kein Blatt vor den Mund. Sie sagt, was zu sagen ist, und man spürt beim Lesen das grosse Anliegen, ihre Erfahrungen als Patientin und Ärztin und die daraus resultierenden Überzeugungen weiterzugeben.
Das Buch von Kathryn Schneider-Gurewitsch ist ein gut lesbares, wertvolles Vermächtnis, weil es eine Fülle an Themen rund um Sterben und Tod birgt, über die es sich lohnt nachzudenken und mit seinen An- und Zugehörigen zu besprechen. Oder um es mit den letzten Worten im Buch auszudrücken: «Durch das Reden über unsere Wünsche können wir viel zum Gelingen des letzten Schrittes beitragen. Das wünsche ich Ihnen, das wünsche ich mir.»