Frau Stadelmann, was verstehen Sie unter Sozialer Arbeit in der Palliative Care?
Karin Stadelmann: Eine klare Definition gibt es nicht. «Psychosoziale Begleitung oder Betreuung» wird manchmal genannt. Doch dieser Ausdruck ist mir zu sperrig. Leute, die nicht aus dem Fach kommen, wissen nicht, was sich dahinter verbirgt. Für mich ist es «Lebenshilfe am Lebensende zu leisten». Soziale Arbeit in der Palliative Care fokussiert auf die alltägliche Begleitung, egal ob in einem Hospiz oder in den eigenen vier Wänden. Man setzt sich einmal mit banalen Fragen auseinander, dann aber kann es bis zu existentiellen Lebensfragen gehen. Menschen am Lebensende wagen viele Fragen erst spät zu stellen, auch aus Angst oder weil diese keinen Platz fanden. Das Freilegen von Wünschen und Bedürfnissen ist das, was für mich Soziale Arbeit besonders umfasst.
Soziale Arbeit – zuerst fallen einem da finanzielle und administrative Tätigkeiten ein. Zur sogenannten Sozialen Arbeit gehört aber mehr als Sozialarbeit. Richtig?
Ja. Es braucht die finanzielle und administrative Tätigkeit. Aber wenn man Soziale Arbeit als Lebenshilfe am Lebensende versteht, dann geht es um das Befinden des Menschen, am Lebensende an sich, und dazu gehört auch die Familie und das soziale Umfeld. Die Soziale Arbeit ist prädestiniert dafür, Fragen zu stellen – zum Beispiel, welche Bedürfnisse die Menschen haben, wie man sie entlasten und unterstützen kann. Für mich geht das über Sozialarbeit hinaus – es braucht zukünftig beides!
Soziale Arbeit will individuelle soziale Unterstützung bieten. Wie kann das in der Palliative Care konkret aussehen?
In meinen Begegnungen und Gesprächen mit Fachpersonen ist mir klar geworden, dass man ihre Tätigkeit nicht standardisieren kann. Es gibt keine Checkliste, wie man den Alltag auszugestalten hat. Es gibt aber Vorgehensweisen, die wiederkehrend sind. Ich bezeichne das als professionelle Suchbewegung. Es geht darum, Bedürfnisse zu eruieren, welche bisher noch nie ihren Platz gefunden haben. Das sind vielfach Schwierigkeiten und ungelöste Erlebnisgeschichten, welche man jemandem erzählen möchte und bei denen man allenfalls noch Hilfe braucht, um sie abschliessen zu können. Beispielsweise wenn jemand seinen Sohn nochmals sehen möchte, zu dem er jahrelang keinen Kontakt mehr hatte. Oder mit einem Freund ein Thema ansprechen, über welches man nie zusammen geredet hat, bis hin zu konkreten Vorstellungen, wie das eigene Begräbnis organisiert sein soll.
Braucht es für diese Gespräche eine eigene Spezialistin? Man hat meist einen Arzt vor Ort, Pflegende, Seelsorgerinnen.
Ja, im Spital oder Hospiz sind diese Berufspersonen da. Aber sie können sich oft zu wenig intensiv mit der einzelnen Person befassen, gerade dann, wenn vieles noch unklar erscheint, kann die Soziale Arbeit helfen, Bedürfnisse zu ordnen. Das ist eben auch psychosoziale Begleitung. So gibt es schon mal einen Arzt, bei welchem eine Patientin über unerklärlich grosse Schmerzen klagt. Vielleicht stellt sich dann im Gespräch mit einer Sozialarbeiterin heraus, dass die Frau wahnsinnige Angst verspürt und dass man an deren Ursachen arbeiten sollte. Hier wird mit der Sozialen Arbeit eine Lücke zwischen den einzelnen Professionen gefüllt und Informationen werden weitergeleitet. Das ist ein zentraler Punkt im interprofessionellen Team: Wenn Bedürfnisse und Aufgaben klar erfasst sind, dann können alle Berufe ihre Aufgabe besser erfüllen. Zudem geht es auch nicht nur um die Schwerkranken selbst. Es geht auch um die Angehörigen, ihr Alltag gerät ebenfalls aus den Fugen. Alles, das normalerweise läuft, läuft in dieser Extremsituation eben nicht mehr. Für sie und ihre Bedürfnisse muss auch jemand da sein. Auch dann, wenn der nahestehende Mensch gestorben ist.
Dass eine Fachperson für Soziale Arbeit im interprofessionellen Team mitwirkt, hat noch längst nicht überall Einzug gehalten.
Ich erhoffe mir, dass erkannt wird, dass Berufsleute aus der Sozialen Arbeit dem Team einen wichtigen Mehrwert geben – mit ihren Kompetenzen und mit ihren Fähigkeiten, Bedürfnisse auszumachen, welche zuvor noch nicht sichtbar waren. Aktuell müssen sich Sozialarbeitende ihren Platz im multiprofessionellen Team noch ziemlich erkämpfen. Wenn sie diesen aber gefunden haben – das zeigt auch meine Studie – dann werden ihre Beobachtungen und Inputs gerne aufgenommen. Die Akzeptanz dieser Aufgaben ist dann vorhanden. Dies bestätigen mir auch viele Pflegende in der Ausbildung: «Genauso öper bruched mer», heisst es da. Jemand, der einen neuen Blickwinkel im Team einnimmt.
Das Problem ist aber nicht nur die Akzeptanz im Team, sondern vor allem ein finanzielles?
Das Problem aktuell sind Pensen-Etat und Bezahlung. Das sind rechtliche Schwierigkeiten. Viele Leistungen von Seiten der Sozialen Arbeit – gerade in Hospizen – können nicht abgerechnet werden. Im Spital ist die Spital-Sozialarbeit zwar bezahlt, aber nicht der Mehrwert einer Sozialen Arbeit. In Palliativabteilungen oder etablierten Hospizen ist es so, dass wenn es der gesamten Institution finanziell gut geht, sie sich auch eine Fachperson für Soziale Arbeit leisten. Sind die finanziellen Möglichkeiten gering, dann muss die Institution entweder selbst schauen, wie sie diese Personen bezahlt oder auf die wichtige Arbeit verzichten.
Sie haben jedenfalls für Ihre Forschung Menschen gefunden, die Soziale Arbeit in der Palliative Care machen.
Ja. Ich habe mich vor allem auf Hospize oder hospizähnliche Institutionen konzentriert. Wir haben in der Schweiz rund 14 Häuser in dieser Art, sie sind aber unterschiedlich gross und unterschiedlich strukturiert. Ich habe dort gesamthaft 8 Personen gefunden, die in Pensen von 5 bis 60 Prozent gearbeitet haben, von voll bezahlt bis zu von Stiftungen und Donatoren finanziert oder angegliedert an Krebsliga oder Kirchen. Das sind schon sehr schwierige und sehr unklare Situationen.
Was sind neben den finanziellen Aspekten die grössten Herausforderungen in diesem Beruf?
Die Unvorhersehbarkeit. Einerseits hat man grosse Gestaltungsmöglichkeiten, aber man muss sich immer in eine neue Situation hineindenken und sich bewusst sein, dass in fünf Minuten alles ganz anders sein kann. Essenziell in diesem Job ist die Kommunikation und die Bereitschaft für die Suchbewegungen. Gespräche führen auf einer hohen Flughöhe, aber auch auf einer ganz banalen Ebene. Man muss den Mut haben, eine Zimmertür zu öffnen, ganz ohne zu wissen, was auf einen wartet. Aus einem banal wirkenden «Hallo wie geht es Ihnen Herr Rölli?» kann schnell eine zu bearbeitenden Alltagsgestaltung oder halt einfach nur ein kurzer Spaziergang werden.
Könnte das nicht auch eine freiwillige Person?
In einer ersten Phase kann das eine Freiwillige sein. Aber sobald das Klientel das Bedürfnis hat, ihre Lebensgeschichte nicht nur zu erzählen, sondern auch mit jemandem zu bearbeiten, dann übersteigt das die Möglichkeiten der Freiwilligen. Es gilt das ganze Netzwerk dieses Menschen zu verstehen. Hat Herr Rölli eine Frau? Kinder? Geschwister? Gibt es überhaupt jemanden, der erreichbar ist, um seine Herausforderungen anzugehen? Gibt es noch Ungelöstes? Solche Nachforschungen gehören in die Soziale Arbeit.
Also ins Handeln kommen und nicht nur zuhören?
Genau. Aber das ist nicht voraussehbar. Vielleicht müssen sie fünfmal mit Herrn Rölli spazieren gehen, bis sie wissen, was sein Problem ist. Oder es kann sein, dass Herr Rölli einen Tag später verstorben ist. Und hier gibt es einen interessanten Aspekt bezüglich der Palliative Care. Als die eigentliche Soziale Arbeit entstand, war der Fokus auf Kinder und Jugendliche gerichtet, die Zukunft stand im Zentrum. Wie macht man etwas besser als jetzt? Wie resozialisiert man jemanden, der zurück ins Arbeitsleben soll? Wie erzieht man jemanden? Im Vordergrund stand: Wie kann man dem Betroffenen eine Lebensperspektive geben? Und nun taucht die Soziale Arbeit in ein Feld ein, wo genau dieser Punkt kein Gewicht hat. Wir sind im Hier und Jetzt. Die Verbesserungen, die wir anstreben, müssen wir unmittelbar erreichen. Und dahingehend müssen wir die Berufsleute zukünftig auch stärker ausbilden.
Gibt es einen theoretischen Rahmen, an welchem sich Ihre Studierenden festhalten können?
Es gibt Orientierungsmuster, das decke ich in meiner Forschung auch auf. Es gibt sie, aber das heisst nicht, dass die Situation dann immer so verläuft. Ich spreche deshalb lieber von Orientierungspunkten. Einer ist zum Beispiel, dass man Suchprozesse initiieren können muss. Darin kann man jemanden schulen. Dann muss man lernen, Wünsche zu erkennen und sie sichtbar zu machen. Und schliesslich gilt es zu überlegen, wer die Themen bearbeiten kann. Die Soziale Arbeit selbst oder jemand aus dem interprofessionellen Team. Ein weiterer Punkt ist, dass Studierende erkennen, welche Chancen im Unplanbaren stecken. Vielleicht geht jemand ins Krankenzimmer und hört zwischen Herrn Röllis Sätzen heraus, dass er mit seiner Tochter nie darüber gesprochen hat, was konkret passiert, wenn er gestorben ist. Wie geht das Leben für sie weiter ohne ihn – zum Beispiel finanziell? Wird für seine Tochter gesorgt werden? Dann geht es schnell mal um sozialrechtliche Dinge – oder eben um soziale Wünsche. Herr Rölli will nochmal mit seiner Tochter Nachtessen gehen. In diesem Beruf sind wir sowohl für rechtliche Bereiche verantwortlich, wie auch für soziale Bedürfnisse. Die Sozialarbeitende wird zu einer «Agentin für Herausforderungen am Lebensende».
Mit dem Schreiben dieser Dissertation sind Sie tief in das Thema der Palliative Care eingetaucht. Haben Sie auch als Politikerin einen neuen Blick gefunden auf die Begleitung und Betreuung am Lebensende?
Für Palliative Care interessiere ich mich schon länger, ich habe meine eigenen Erfahrungen gemacht mit dem Thema Sterben und Tod. Und politisch bin ich sehr sensibel für das Thema. Ich verfolge seit Jahren, was national passiert. Ich war Mitinitiatorin des Hospiz Zentralschweiz, war Stiftungsrätin und spreche heute, wo immer ich kann, über die Begleitung am Lebensende und unsere Herausforderung. Zudem durfte ich mit grossartigen Frauen die Luzerner Fachtagung für Palliative Care gründen. Politisch ist für mich klar: Wir müssen die Finanzierung der Palliative Care klären! Die Sorge um Menschen am Lebensende muss finanziert sein. In einem Hospiz, ambulant zu Hause, im Spital oder auch im Pflegheim.
Aber die entscheidenden Schritte in diese Richtung hat die Schweizer Politik noch nicht gemacht?
Nein, das hat sie eben nicht. Mich stört es, dass sich so wenig bewegt und das Thema wenig populär ist. Auch in meiner politischen Arbeit sehe ich das. Rede ich über Erbschaftssteuer, dann ist das Interesse von Medien und Parteien gross. Spreche ich aber über Palliative Care, über das Sterben und den Tod, dann wird das nur am Rande zur Kenntnis genommen. Als Politikerin frage ich mich, wie bringe ich dieses Thema in die gesellschaftliche Diskussion ein? Eine Antwort auf diese Frage, ist vielleicht das soeben erschienene Buch zu meiner Forschung «Die Sorge um Andere am Lebensende als Beruf». Ich bin gespannt, wie die Reaktionen darauf sein werden.
Zum Buch:
Die Sorge um Andere am Lebensende als Beruf
Untertitel: Eine empirische Rekonstruktion des professionellen Selbstverständnisses der Sozialen Arbeit in der Palliative Care
Karin A. Stadelmann
ISBN: 978-3-658-45030-4
Springer Fachmedien Wiesbaden