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Herausforderungen und wie wir mit ihnen umgehen

Bildstrecke Fachtagung 2024. (Fotos:bw)

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24. Juni 2024 / Wissen
Die Fachtagung 2024 von palliative zh+sh befasste sich mit den Herausforderungen am Lebensende. Rund 100 Fachleute liessen sich über verschiedenste Aspekte informieren und erläuterten gemeinsam konkrete Situationen aus dem Alltag.
Herausforderungen gibt es in der Palliative Care viele. Doch was verstehen wir unter Herausforderung? Dr. sc. nat. Stephanie Züllig, Geschäftsführerin von palliative zh+sh, nannte in ihrem Begrüssungswort ein paar synonyme Begriffe, wie wir sie in einem Lexikon finden. Schwierigkeiten etwa. Provokation. Affront und Brüskierung. Oder einfach Aufgabe. Die Herausforderungen zeigen sich auf körperlicher, psychischer, sozialer und spiritueller Ebene – und sie betreffen sowohl die Patientin oder den Patienten wie auch Angehörige und das interprofessionelle Team.

«Ich will diese Medis nicht!»

Nina Streeck, Dr. sc. med., Ethik-Beraterin und -Dozentin sowie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Zürich, befasste sich im ersten Referat mit den ethischen Aspekten der Palliative Care bei Menschen mit Demenz. Zu den typischen Problemen bei dieser Personengruppe gehören Nahrungsverweigerung, Pflegeverweigerung oder wechselnde Willensäusserungen. «Bei Menschen mit Demenz ist die Herausforderung für die Fachleute besonders gross», sagte Nina Streeck. Sie können zu vielen Konflikten führen. Typische Fragen, die sich stellen sind: Ist die Person gegenwärtig urteilsfähig? Entspricht der aktuell ausgesprochene Wille dem, was die Person bisher wollte? Und in wie weit dürfen wir uns über den Willen des Patienten, der Patientin hinwegsetzen? An einem typischen Beispiel («Ich will diese Medis nicht!») zeichnete die Referentin eine ethische Fallbesprechung nach. Diese wird üblicherweise von einem multiprofessionellen Team durchgeführt und von einer Moderatorin geleitet. Innerhalb einer begrenzten Zeit soll das Team zu einer ethisch gut begründeten Entscheidung kommen. So machte es die Referentin an der Fachtagung gemeinsam mit dem Publikum. Dieses diskutierte über die verschiedenen Handlungsoptionen. Sinnvolle Alternativen wurden erarbeitet, etwa die oral eingegebenen Medikamente durch Schmerzpflaster zu ersetzen. Auch eine andere Pflegefachperson oder ein anderer Zeitpunkt der Medikamentenabgabe wären Alternativen – sowie ein klärendes Gespräch mit den Angehörigen. Fazit der Fachleute vor Ort: Jeder Fall ist anders und bedarf auch einer individuellen Faktensammlung auf pflegerischer, medizinischer und sozialer Ebene. Erst wenn alle Handlungsoptionen geklärt sind und die Fachleute sie gegeneinander abgewogen haben, ist ein gemeinsamer Beschluss zum Wohle der Patientin möglich.

Wann kommt er, der Tod?

Im zweiten Beitrag dieses Nachmittags ging es um die Vorhersagbarkeit des Todes. Dr. med. Susanne Hedbom, Leitende Ärztin am Zürcher Lighthouse, und Dr. med. Hannah Schlau, Leitende Ärztin am Stadtspital Zürich, traten in einen Dialog. Und Hannah Schlau nahm es gleich vorweg: «Wir können den Tod relativ schlecht voraussagen.» Unterschiedliche Krankheiten haben verschiedene Vorhersehbarkeiten, genaue Prognosen sind schwer zu machen. «Die Prognostik ist deshalb etwas, dass eher für die Wissenschaft von Interesse ist als für unsere Praxis.» In der onkologischen Praxis sei ein Vergleich einzelner Fälle noch eher möglich als bei einer polymorbiden, geriatrischen Situation, meinte Susanne Hedbom. «Ein Delir ist reversibel. Ebenso das Rasseln der Atmung muss im Zusammenhang mit der gesamten Krankheit angeschaut werden.» Im Gespräch miteinander fragten sich die zwei Leitenden Ärztinnen, was die Evidenz dazu sagt. Wie genau können wir den Todeszeitpunkt vorhersagen? Bei einem von drei Patienten wird ein unmitttelbar bevorstehender Tod (<72 h) nicht korrekt vorhergesagt. Etwas genauer ist die Prognose bei einer relativ kurzen Überlebenszeit (<14 Tage) und bei einer längeren Überlebenszeit (>1 Jahr). Dort liegt die Genauigkeit bei 74%, respektive 85%. Besser schneidet das Bauchgefühl ab, das bei den Fachpersonen aus der genauen Beobachtung des Betroffenen resultiert: Wie atmet die Patientin? Wie steht es mit der Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme, wie ist der emotionale Zugang? «Die Pflege schätzt den Todeszeitpunkt tendenziell besser ein als die Ärztinnen und Ärzte», sagte Hannah Schlau. Die Kristallkugel, die den Tod voraussagt, hat aber niemand in der Hand.

«Das volle Programm, bitte!»

Nach der Kaffeepause, in der die Tagungsteilnehmenden die Gelegenheit nutzten, sich auszutauschen und zu netzwerken, ging es um Patientenwünsche als Herausforderung fürs Behandlungsteam. Daniel Burger, Fachverantwortlicher Palliative Care und Palliativseelsorger der Katholischen Kirche im Kanton Zürich, machte zwei konkrete Fallbeispiele, zu welchen sich das Publikum per Mentimeter äussern konnte. In beiden vorgelegten Fällen wünschten Patienten oder Angehörige «das volle Programm» – alle Hebel sollten in Bewegung gesetzt werden, damit das Lebensende des Schwerkranken oder Sterbenden hinausgeschoben werden kann. Man will unter allen Umständen gegen «den Tod ankämpfen». Ihm nicht das Feld überlassen. «Da breitet sich bei den Profis oft ein Ohnmachtsgefühl aus», so Daniel Burger. Kämpfen gegen den Tod muss nicht grundsätzlich falsch sein, es gibt auch Gutes daran. Per Mentimeter konnten die anwesenden Fachpersonen ihre Inputs geben, worin sie die Chancen des Kämpfens sehen. Unter den Stichwörtern, welche an die Wand projiziert wurden, waren Begriffe wie Hoffnung, Energie, Kraft oder Lebenswille. Und was genau ist dabei die Herausforderung für sie als Fachleute? Aushalten, Ohnmacht, Hilflosigkeit und Unsicherheit waren hier die am häufigsten genannten Begriffe. Daniel Burger rezitierte ein Gedicht mit dem Titel «Sei gelobt Hoffnungslosigkeit». Dieses zeigte in einer feinfühligen Art, dass wir nicht auf alles eine Antwort haben müssen. «Eine Portion Demut ist hilfreich, wenn wir helfen wollen und doch hilflos sind», sagte der Referent. Sich selbst zu sagen «ok, ich mache mein Bestes. Vielleicht klappt es, vielleicht nicht». Denn für Daniel Burger ist klar: «Es ist würdevoll zu kämpfen, es ist aber auch würdevoll zu verlieren.»

Lebensmut am Lebensende

Abschliessend ging es an der Fachtagung 2024 um die Bedeutung von Hoffnung in der Palliative Care. Referentin war Marie-Luise Fontana, M. Sc., Psychoonkologische Psychotherapeutin SGPO, Fachpsychologin für Psychotherapie FSP. Sie führt eine Praxis für Psychoonkologie und Psychotherapie in Bern. Wie definiert sie Hoffnung? «Hoffnung ist ein komplexes und vielschichtiges Gefühl. Eine Einstellung, die sich auf Erwartungen und das Vertrauen in eine positive Zukunft bezieht», sagte sie. «Die Hoffnung ist ein emotionaler Zustand, der sich durch den Glauben an mögliche gute Ergebnisse auszeichnet, an eine Verbesserung des Zustandes selbst in schwierigen Situationen.» Als Fachpersonen in der Palliative Care unterscheiden wir nicht selten realistische und unrealistische Hoffnung. Doch ist diese Unterscheidung von Bedeutung? Und was stört Fachleute so sehr an vermeintlich unrealistischen Hoffnungen? Im Vordergrund steht wohl die Sorge, die Betroffenen würden heftig enttäuscht, wenn sie die Realität einst anerkennen müssen. Auch die Befürchtung, der Abschied vom Leben und den Angehörigen könnten bei unrealistischen Hoffnungen nicht gut gelingen. Besorgnis auch, ob die spirituelle Vorbereitung auf das Lebensende so gelingen kann. Aber als Betreuende müssen wir nicht dafür sorgen, dass die Patienten zu dieser «Einsicht» kommen. Auch die Angehörigen müssen nicht jeden Hoffnungsschimmer ins reale Licht rücken. Hoffnung ist eine Bewältigungsstrategie und wir sollten sie aushalten und akzeptieren. In einem gewissen Sinne tragen Pflegefachpersonen, Ärztinnen und Therapeuten die Verantwortung, Hoffnung zu vermitteln und zu erhalten. Denn wie sagte Marie-Luise Fontana? «Die Bedeutung von Hoffnung für den Patienten ist mit dem Leben als Wert an sich verbunden und hat nichts zu tun mit der Frage, ob ein bestimmtes Ziel schliesslich erreicht wird oder nicht.»
palliative zh+sh / Bettina Weissenbrunner