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«Bis ins Mittelalter musste ein Arzt ein Instrument spielen»

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Veronika Ehrensperger ist Harfistin und Musiktherapeutin am Hospiz Zürcher Lighthouse. (Bild: Tina Ruisinger)

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19. März 2024 / Vermischtes
Musik kann beruhigen und Energie geben. Sie berührt die Seele und setzt den Körper in Schwingungen. Ein Interview mit Veronika Ehrensperger, Harfistin und Musiktherapeutin am Hospiz Zürcher Lighthouse.
Veronika Ehrensperger, hat Musik eine heilende Wirkung?

Musik hat ganz sicher heilende Wirkung. Das ist inzwischen keine Glaubensfrage mehr, sondern eine wissenschaftlich fundierte Feststellung von Neurologen. Auch aus meiner praktischen Erfahrung weiss ich, dass Musik zumindest eine heilende Wirkung haben kann. Das war übrigens schon in frühster Vergangenheit bekannt. Bis ins Mittelalter musste ein Arzt ein Instrument spielen können. Und noch heute ist Musik ganz eng mit Heilung verbunden. Das Wort heilend muss man aber in einem weiten Sinn verstehen. Menschen in einem Hospiz werden nicht munter rausspazieren nach einer Begegnung mit der Musiktherapeutin. Heilend heisst auch im Frieden sein mit sich, mit dem was ist oder dem was in Vergangenheit war.

Musik kann entspannen oder aktivieren. Wann braucht es was?

Entspannende Klänge setze ich ein, wenn jemand in einem grossen inneren Stress ist. Wenn er oder sie nervös ist oder nicht schlafen kann. Und natürlich, wenn jemand von sich aus sagt, dass er ruhige Musik hören möchte. Entspannende Musik sind bei der Harfe oft Patterns, also melodische Muster oder tonale Abfolgen, die sich wiederholen und deshalb besonders eingängig sind. Entspannung hat mit Rhythmus zu tun, meist auch mit gewissen Skalen. Rhythmisch gesehen sind beruhigende Klänge meist in einem Dreier- oder Sechsertakt geschrieben. Viele Schlaflieder für Kinder sind so komponiert worden. Aktivierend dagegen ist ein Zweier- oder Vierertakt – meist in Dur. Diese Art setze ich zum Beispiel ein, wenn ich in einem Altersheim spiele und den Seniorinnen und Senioren eine Freude machen möchte. Da habe ich schon erlebt, dass eine ganze Gruppe von dementen Menschen mit samt Pflegerinnen und Pfleger getanzt hat.

Musik ist auch körperlich wahrnehmbar – etwa durch Schwingungen. Was macht das mit den Patienten, den Patientinnen?

Wir erleben diese Schwingungen ja alle selber. Wenn wir an einem Rock- oder Popkonzert sind, dann fahren die tiefen Töne der Bässe so richtig in den Körper ein. Bei Harfenklängen ist das im Prinzip genau gleich, einfach subtiler. Kürzlich hatte ich eine Patientin, die sehr schwerhörig und fast blind war. Aber sie liebte Musik. Und so habe ich ihr die Hand auf den Resonanzkörper meiner Harfe gelegt, während ich gespielt habe. Auf diese Weise konnte sie die Musik besonders deutlich spüren. Aber auch ohne Kontakt zum Resonanzkörper sind die Frequenzen spürbar. Ich arbeite in meiner Praxis mit einer Klang-Liege, manche Klientinnen nennen sie auch «Harfenbett». Es ist eine Liege, welche einen Hohlkörper aus weichem Holz hat, und auf dem Boden sind Saiten befestigt – bei mir sind das 55 gespannte Metallsaiten. Da liegt der Mensch drauf und ich streiche über die Saiten. So kommt das Obertonspektrum zum Klingen, was körperlich spürbar ist. Die Leute beschreiben diese Erfahrung als ein wärmendes, leicht vibrierendes Gefühl. Viele sehen Bilder zu den Klängen.

Wie wird man Musiktherapeutin?

Ich komme aus einer Musikerfamilie, wir alle sind Musiker geworden. Daneben habe ich mich immer mit Gesundheitsfragen auseinandergesetzt und ich bin ein Bewegungstyp. Das Thema Heilsein in einem ganzheitlichen Sinn faszinierte mich seit jung. Welchen Einfluss hat die Musik aufs Leben? Wie setzen andere Kulturen Musik ein? Oder was macht ein Medizinmann, ein Schamane? Ein Schlüsselerlebnis war, als ein Bekannter von mir im Sterben lag und ich spontan fragte, ob ich Harfe spielen sollte für ihn. Danach merkten wir beide, wie viel ihm das geholfen hat. Und so setzte ich mich immer mehr mit dem Thema auseinander. Bei der deutschen Harfistin Uschi Laar im Institut für Harfe und Heilmusik lernte ich die Musiktherapie konkret kennen. Das wollte ich erst nicht beruflich machen, von Beruf her bin ich ja Konzertharfistin und gebe Musikunterricht. Als dann die Anfrage vom Hospiz Zürcher Lighthouse kam, konnte ich aber all dies kombinieren.

Wenn Sie im Hospiz ein Zimmer betreten, wonach entscheiden Sie, welche Art Musik Sie spielen? Machen Sie das spontan?

Ich habe mir eine Routine angewöhnt. Beim Betreten des Zimmers bleibe ich einen kleinen Moment stehen und stimme mich auf den Raum ein. Nachdem ich mich vorgestellt habe und der Patient meinen Besuch wünscht, beginne ich mit einem immer gleichen Stück – man nennt es hier schon «das Lighthouse-Lied». Es ist ein Musikstück, welches fast allen gefällt. In der Zeit, in der ich dieses spiele, schaue ich mich ein wenig im Raum um, sehe die Einrichtung, ein Bild, erspähe vielleicht ein Foto. Auch achte ich darauf, wie der Mensch auf mich reagiert. Wie atmet er? Wie bewegt er sich? Wie hört er der Musik zu? So nehme ich ein Stück weit auf, was für ein Mensch vor mir ist und was er wohl mag. Und wenn die Person ansprechbar ist, dann kommen wir ins Gespräch. Dann frage ich, welche Musik sie besonders schätzt.

Und welche Musik mögen die Hospizbewohnerinnen und -bewohner am meisten?

Ach, da geht es in hundert verschiedene Richtungen. Viele mögen klassische Musik. Und wenn ich nachhake, dann gibt es manchmal ganz detaillierte Wünsche. Mozart, Tschaikowski, eine konkrete Oper, Filmmusik, Volksmusik. Alte Schlager sind beliebt. Meist kann ich diese Sachen aus dem Stehgreif spielen – und ansonsten vertröste ich auf die kommende Woche und suche das Stück zu Hause raus. Die Musikwahl hat auch viel mit dem gesundheitlichen Zustand der Betroffenen zu tun.

Als Musikerin begegnen Sie den Hospizbewohnerinnen und -bewohnern auf eine andere Art als Ärzte oder Pflegefachleute. Kommen Sie leichter mit Menschen ins Gespräch?

Musik ist eine eigene Sprache, sie dient oft als Brücke. Die Klänge meiner Harfe wecken Erinnerungen oder knüpfen an irgendeine Begebenheit an. Natürlich geht es oft um die Vergangenheit. Ich erinnere mich an eine Begegnung mit ein paar Frauen, die ihre Freundin besuchten. Da ergab sich aus meinem Harfenspiel fast ein «Kafi-Chränzli» wie zu den guten alten Zeiten. Die Patientin wünschte sich einen Schlager nach dem anderen, die drei Damen lachten und dachten an ihre Jugendjahre – und wir alle sangen gemeinsam die alten Songs am Krankenbett. Da war eine richtig fröhliche Stimmung.

Musik lässt Erinnerungen aufleben.

… und dies auf wunderbar leichte Art. Mit Schwerkranken zu reden, ist am Ende nicht immer möglich. Vielleicht strengt es sie zu sehr an. Dann ist es schön, einfach beieinander zu sein und der Musik zu lauschen. Oder dazu zu summen, die Hand halten. Dann findet der Austausch auf einer anderen als der verbalen Ebene statt.

Inwiefern werden Sie in das interdisziplinäre Palliativteam im Lighthouse einbezogen?

Wir pflegen im Hospiz Zürcher Lighthouse einen sehr guten Austausch. Ich kenne die meisten Angestellten, bin ja seit 2018 im Haus tätig. Wir besprechen uns laufend. Bevor ich mit der Arbeit beginne, hole ich mir Informationen über die neuen Patienten ein, frage, ob jemand einen speziellen Wunsch geäussert hat und wie es den einzelnen Bewohnerinnen und Bewohnern geht. Natürlich wird mir auch gesagt, wenn jemand gestorben ist in der vergangenen Woche. Mit der Pflege habe ich einen guten Austausch, auch mit der Ärztin immer wieder und mit der Kunsttherapeutin. Ich bekomme ein Feedback auf meine Arbeit, und sie bekommen eines von mir. Mit der Seelsorge gibt es ebenfalls eine nahe Zusammenarbeit, zum Beispiel wenn es um Festlichkeiten geht oder auch jeweils im November, wenn wir der Verstorbenen des vergangenen Jahres gedenken.

Können Sie das Team in gewisser Weise auch entlasten?

Manchmal setzt mich die Pflege ganz gezielt ein. Wenn zum Beispiel eine demente Bewohnerin nicht zur Ruhe kommt, kann ich sie vielleicht mit meinem Spiel beruhigen und das Personal so eine Zeit lang entlasten. Und das freut mich dann sehr. Denn ich bewundere die Pflegenden, wie sie ihren anstrengenden Alltag meistern!

Musizieren Sie auch mit den Bewohnerinnen und Bewohnern gemeinsam?

Das ist schon mehrere Male vorgekommen. Kürzlich ist ein langjähriger Bewohner verstorben, mit dem ich oft Gitarre gespielt habe. So richtige Jam-Sessions hatten wir. Eine Frau spielte mal mit mir Handpan. Und gegenwärtig spielt eine 90-jährige Dame jede Woche mit mir Ziehharmonika. Sie wartet jeweils am Morgen bereits ungeduldig auf dem Gang, wenn ich komme. In den letzten Wochen ist sie hier richtig aufgeblüht, es geht ihr viel besser als zum Zeitpunkt, als sie ins Lighthouse kam. Unter anderem hat ihr die Musik Kraft und neuen Lebensmut geschenkt. Musik ist für sie ein Lebenselixier geworden.

palliative zh+sh / Bettina Weissenbrunner