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«Demenz durchdringt jeglichen Lebensbereich»

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Annette Ciurea ist Fachärztin für Innere Medizin mit den Spezialgebieten Geriatrie und Palliativmedizin. (zvg)

Portrait

Zur Person

Zur Person: Dr. med. Annette Ciurea ist Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin mit Schwerpunkt Geriatrie und Palliativmedizin. Sie studierte Humanmedizin an der Universität Zürich, es folgte die fachärztliche Ausbildung zur Internistin, Psychosomatikerin, Geriaterin und Palliativmedizinerin. Unter anderem war sie als Leiterin der interdisziplinären Notfallstation am Spital Bülach tätig, Leitende Ärztin der Akutgeriatrie im Stadtspital Zürich Waid sowie Leitende Ärztin der Palliativstation des Spitals Männedorf. Seit 2022 ist Annette Ciurea in der Geschäftsleitung von Age Medical AG. Sie ist im Vorstand von Alzheimer Zürich.

Video zum Thema

25. Januar 2024
Mit der Zunahme der älteren Bevölkerung steigt auch die Häufigkeit von Demenz. Was heisst das für die Gesellschaft – was für die Palliative Care? Ein Gespräch mit Annette Ciurea, Fachärztin Innere Medizin mit Spezialgebieten Geriatrie und Palliativmedizin.
Frau Ciurea, wann spricht man bei einem Menschen mit Demenz von einem Palliativpatienten?

Demenz-Erkrankungen sind in der Regel chronisch fortschreitende Erkrankungen, die über Jahre hinweg zunehmend die Funktion des Gehirns beeinträchtigen und die Lebenszeit verkürzen– mit dieser Umschreibung zeigt sich schon, dass ein Bedarf an Palliative Care vorhanden ist. Zu Beginn, im leichten Stadium, ist der Betroffene selbst oft sehr belastet mit Unsicherheiten und Ängsten, was die Zukunft bringen wird. Hier kann Early Palliative Care unterstützen im Advance Care Planning – also dem Aufsetzen einer Patientenverfügung, eines Vorsorgeauftrages und in der Auseinandersetzung mit der Erkrankung. Mit der fortschreitenden Demenz kommt ein mittleres Stadium. Hier nimmt die Belastung der Angehörigen deutlich zu, meist aufgrund von Verhaltensstörungen oder neurologischen Symptomen. In dieser Phase sind oft geriatrisches Wissen, Kenntnisse der Alterspsychiatrie und der Neurologie hilfreich. Auch der Bedarf an Palliative Care steigt, beispielsweise, wenn es um Entscheidungsfindung geht bezüglich der Wohnform oder dem Abwägen von medizinischen Eingriffen.

Und in den Bereichen der schweren und sehr schweren Demenz?

Dann steht die Fachkompetenz der Palliative Care im Vordergrund. Insbesondere geht es darum, Symptome zu lindern und sich auf das Lebensende vorzubereiten. In dieser Phase hilft eine ärztliche Notfallanordnung und ein Notfallplan, um mit den Angehörigen und dem Behandlungsteam die letzte Lebensphase zu gestalten und Hospitalisationen zu vermeiden.

Wie sieht die palliative Versorgung eines Menschen mit Demenz aus?

Wir unterscheiden die allgemeine von der spezialisierten Palliative Care. Menschen mit Demenz benötigen meist allgemeine Palliative Care, die von Hausärzten, Spitex oder in Pflegeinstitutionen geleistet wird. Meine Erfahrung zeigt, dass die spezialisierte Palliative Care hier vor allem als Wissensvermittlerin und Brückenbauerin gebraucht wird, insbesondere, da noch Nachholbedarf in Kenntnissen von Palliative Care besteht - sowohl bei der Pflege als auch in der Medizin. Es geht ja nicht nur darum, eine bestmögliche Symptomlinderung in den letzten Lebenstagen zu gewährleisten, sondern bereits vorher zu überlegen, wie man bei einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes vorgehen soll. Das betrifft beispielsweise das Thema Stürze, Gewichtsabnahme oder auch den Eintritt in ein Pflegeheim.

Wie kommuniziert man mit jemandem, der verwirrt ist und dessen Urteilsfähigkeit ständig abnimmt?

Oft ist mit dem Betroffenen eine ganz einfache Kommunikation noch möglich. Man muss eine sichere und ruhige Atmosphäre schaffen, in ganz einfachen Worten reden. Ironie etwa funktioniert nicht. Argumentieren oder an die Vernunft zu appellieren, bringt auch nichts. Auf Emotionen sollte man unbedingt achten und immer den Menschen wertschätzend auf Augenhöhe begegnen. Die Alzheimervereinigung unterstützt Angehörige sehr, beispielsweise mit den Angehörigengruppen oder mit einer Beratung. Dort kann jemand lernen, wie die Kommunikation am besten funktioniert und wie man selbst mit Stresssituationen umgehen kann. Das ist auch wichtig für die Pflege-Teams in Demenzwohngruppen.

Und im letzten Stadium der Demenz? Wie erkennt man, an welchen Symptomen der Betroffene dann leidet?

Das kann schwierig sein. Das Leiden zeigt sich vor allem mit dem Auftreten von Unruhe. Die Frage ist dann, weshalb die Person so unruhig ist: Muss sie auf die Toilette? Hat sie Hunger? Verspürt sie Schmerzen? Fühlt sie sich einsam oder hat Angst? Mit Sprache kann das nicht mehr ausgedrückt werden. Dann braucht es das geschulte Personal, jemanden, der sie gut kennt. Dieser Prozess ist immer eine Annäherung und erfordert viel Erfahrung und Aufmerksamkeit.

Wie sehen Sie die Rolle der Angehörigen?

Die Angehörigen spielen eine ganz zentrale Rolle. Wir wissen, dass sie unentgeltlich Betreuungsarbeit im Bereich von mehreren Milliarden Schweizerfranken pro Jahr leisten. Sie sind bereits ab dem mittleren Stadium einer Demenz stark betroffen, aufgrund der zunehmend auftretenden Verhaltensstörungen, was sich oft auch in Gesundheitsproblemen zeigt. Die Auswirkungen der Krankheit sind ja nicht nur auf der gesundheitlichen Ebene, sondern durchdringen die ganze persönliche Welt des Betroffenen und seiner Familie, sei es das Arbeitsumfeld, das Wohnen, das Autofahren, Hobbies oder finanzielle Themen. Deshalb ist Demenz ja auch so belastend. Es ist nicht einfach die Vergesslichkeit – es ist das Durchdringen jeglichen Lebensbereichs.

Auch die Partnerschaft leidet.

Ja, die Angehörige hat keinen gleichberechtigten Partner mehr und wird zunehmend zu einer Betreuungsperson. Sie bekommt oft keinen Dank zurück für das, was sie leistet. Oft erkennt die erkrankte Person gar nicht, was seine Nächsten für ihn tun – wir nennen das die Uneinsichtigkeit oder die Anosognosie. Hier sollte man sich unbedingt Hilfe in der Betreuung holen, beispielsweise bei den Alzheimervereinigungen, die Unterstützungsangebote und Beratung anbieten. Eine weitere Belastung für den Partner, die Partnerin kommt ganz am Ende, dann, wenn Entscheidungen gefällt werden müssen und der Kranke nicht mehr kommunizieren kann. Wenn es beispielsweise keine Patientenverfügung gibt, wenn man es verpasst hat, das Thema Lebensende zu besprechen, dann bedeutet es eine zusätzliche Belastung, für den Liebsten entscheiden zu müssen.

Woran konkret sterben Menschen im Endstadium einer Demenz?
Das letzte Stadium kündigt sich oft langsam an mit dem Nachlassen der Sprache und Mobilität, einem zunehmenden Rückzug in sich selbst und oft auch einem Gewichtsverlust. Schluckstörungen sind sehr häufig, da der Schluckakt durch die Neurodegeneration nicht mehr koordiniert erfolgt. Lungenentzündungen als Folge von Aspirationen treten daher häufig auf und führen sehr oft zum Tod.

Was sind die besonderen Herausforderungen im Pflegealltag von Menschen mit Demenz?

Viele Menschen mit Demenz verbringen ihr Lebensende in einer Langzeitinstitution. Herausfordernd ist ab dem mittleren Stadium, dass das Nachlassen der Hirnfunktionen zu diversen Verhaltensauffälligkeiten führt, wie Angst, Depressionen, ständiges Umherlaufen, herausforderndes Verhalten, Unruhe auch in der Nacht. Diese Auswirkungen sind schwierig für das Pflegepersonal, besonders das Widersetzen von pflegerischen Massnahmen. Und oftmals geraten die Pflegenden in ein Spannungsfeld zu den Angehörigen, die einerseits Mühe haben, dass der Betroffene in einer Pflegeinstitution betreut wird und nicht mehr zu Hause sein kann, anderseits befürchten, dass die Bedürfnisse des Schwerkranken nicht richtig wahrgenommen werden. Und dann ist natürlich auch der Fachkräftemangel ein riesiges Problem für die Pflegenden.

... und gleichzeitig leiden immer mehr Menschen an Demenz und brauchen palliative Betreuung. Sind wir als Gesellschaft darauf vorbereitet?

Es ist gerade im letzten Oktober ein Bericht zu den Versorgungsstrukturen und Angeboten für Menschen mit Demenz herausgekommen, der im Auftrag des BAG verfasst wurde. Er ist das Ergebnis der Befragung der Kantone und der regionalen Alzheimer-Sektionen. Aktuell gibt es 16 Kantone, die ein Demenzkonzept verabschiedet haben. Die Lücken, die aufgezeigt wurden, sind, dass es an Institutionen mangelt, die speziell auf jüngere Personen ausgerichtet sind, also auf unter 65-Jährige. Auch in den Bereichen des betreuten Wohnens und der Nachtversorgung sind die Angebote ungenügend, ebenso in der ambulanten Versorgung. Das schweizerische Gesundheitsobservatorium Obsan hat übrigens berechnet, dass die Zahl der Menschen über 80 Jahre, die in der Schweiz leben, von aktuell über 400'000 in 20 Jahren doppelt so hoch sein wird, also fast eine Million. Demenz ist eine Krankheit der Hochaltrigkeit, daher wird ein sehr grosser Betreuungsbedarf auf uns zukommen. Im Spitexbereich geht man von rund 100 000 zusätzlichen Klientinnen und Klienten aus, im Langzeitbereich von 50 000 zusätzliche Betten. Der Bedarf an Palliative Care wird also klar steigen, insbesondere auch in den Pflegeinstitutionen: die Frage der finanziellen Versorgung ist ungelöst – ebenso wie die Vergütung der durch die Angehörigen geleistete Betreuung zuhause.

Was bedeuten diese Erkenntnisse für die Zukunft?

Insgesamt bedeutet das, dass wir uns mit der zunehmenden Hochaltrigkeit dringend um die palliative Geriatrie kümmern müssen. Die Geriatrie sollte sich Wissen in Palliative Care aneignen und die Palliative Care Wissen in der Geriatrie für die optimale Versorgung der Betroffenen. Und es braucht eine Stärkung der allgemeinen Palliative Care in der Grundversorgung durch entsprechende Weiterbildungen. Dies wurde auch in der von der von der Gesundheitsdirektion Kanton Zürich lancierten Arbeitsgruppe zur «Strategie Palliative Care im Kanton Zürich», an der ich teilnehmen durfte, gefordert. Ich hoffe sehr, dass dies die Finanzierung von Palliative Care verbessern wird und warte gespannt auf den Bericht.
Für die Betroffenen und die Angehörigen ist der tagtägliche Umgang mit dieser Erkrankung eine unglaubliche Herausforderung. Sie haben unsere fachliche Expertise und Respekt verdient. Es gibt immer wieder sehr berührende Momente. So hat mir neulich eine 87-jährige Frau, die ihren Ehemann bis anhin allein zuhause betreut hatte, gesagt: «Ich habe gemerkt, dass die Seele nicht krank wird, sondern nur der Körper.» Diese spirituelle Erfahrung war für sie ein Trost und gleichzeitig eine Motivation, ihren Mann weiterhin zu unterstützen. Sie hat aber auch gemerkt, dass die Betreuung ihre Kräfte übersteigt und dass sie sich Hilfe holen muss.


Veranstaltungshinweis: "Dann wär’ ich halt lieber tot!”. Auftaktveranstaltung 30 Jahre Alzheimer Zürich. 6. März 2024, Volkshaus Zürich. 17 bis 19 Uhr. Der Eintritt ist frei, eine Anmeldung nicht notwendig. Siehe auch Link im Infokasten oben.
palliative zh+sh / Bettina Weissenbrunner