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Pflege-Studierende bei Palliative Care um eine Nasenlänge voraus

Pflege-Studierende bei Palliative Care um eine Nasenlänge voraus

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Zwei Pflege-Studierende üben in der High-Fidelity-Situation mit Schauspielerin und Modell, wie in palliativen Situationen zu reagieren ist. (©Bachelor Pflege, ZHAW)

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23. Oktober 2023
Bereits im zweiten Studienjahr beschäftigen sich ZHAW-Studierende im Bachelor Pflege mindestens neunzig Stunden lang mit Palliative Care. An der Medizinischen Fakultät der Uni Zürich ist es nur ein Bruchteil davon.
Nach einer langen Sommerpause hat in der zweiten Septemberhälfte an den Fachhochschulen und den Universitäten das Semester begonnen. Ein passender Zeitpunkt also um nachzufragen, welchen Stellenwert die Palliative Care in der Ausbildung von Pflegenden, Ärztinnen und Ärzte an den Zürcher Hochschulen hat.

An der medizinischen Fakultät der Universität Zürich (UZH) wird Palliative Care als Thema über eine längere Zeit nur im «Mantelstudium» vertieft: Eines von zahlreichen Wahlpflichtmodulen gibt den Studierenden des zweiten bis vierten Jahres einen Einblick in die Praxis der Palliativversorgung. Während acht Wochen werden 24 Studierenden jeweils an einem Morgen pro Woche Grundkenntnisse in Palliative Care vermittelt, und sie können in verschiedenen Palliativstationen, Hospizen oder ambulanten Diensten schnuppern. Welche Studierenden welches Modul auswählen und ob sie einen Platz erhalten, erfolgt relativ zufällig.

Moë Fitzlaff (21) hat letztes Semester im Mantelstudium einen Platz im Modul Palliative Care ergattert. Die Studentin, die im vierten Jahr studiert, hat den Kurs ausgewählt, weil «ich weniger Theorie und mehr Praxis wollte». Die Möglichkeit, in die Praxis hineinzuschauen und auch mit Patientinnen und Patienten zu sprechen, gefiel ihr gut. Sie wusste aus dem Modulbeschrieb, dass sich das Fach mit der letzten Lebensphase befasst. «Die Teilnahme an diesem Kurs war für mich auch ein Test, ob ich die Konfrontation mit den Themen Sterben und Tod überhaupt ertrage. Es stellte sich heraus, dass ich die Herausforderung gut meistern konnte.» Überrascht habe sie, dass sich auch die Ärztinnen und Ärzte mit spirituellen Fragen auseinandersetzen müssen. «Wenn Patientinnen zurückfragten, woran ich denn glaube, musste ich eine plausible Antwort bereit haben.» Der Studentin gefiel die Palliative Care so gut, dass sie auch in ihrem Wahlstudienjahr, das im fünften Jahr im Medizinstudium absolviert wird, ein Praktikum auf einer Palliativstation machen will. Sie ist froh, dass sie per Zufall auf die Palliative Care gestossen ist. «Ich hätte das Thema leicht verpassen können.»

«Interprofessionelle Fokuswoche ist ein Schritt in die richtige Richtung»

Immerhin hat die UZH seit 2019 eine Assistenzprofessur für Palliative Care. Ihr Inhaber David Blum leitet das Mantelstudium und vermittelt Grundbegriffe der Palliative Care in einer allgemeinen Vorlesung im vierten Studienjahr sowie auch im Rahmen einer Lehrveranstaltung über psychosoziale Medizin. Seit drei Jahren veranstaltet die medizinische Fakultät ausserdem zusammen mit der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaft (ZHAW) eine sogenannte «Fokuswoche Vernetzung», in der alle Studierenden der Medizin und anderer Gesundheitsberufe (Pflege, Physio-, Ergotherapie, Hebammen, Gesundheitsförderung und -prävention) in innovativen Formaten mit- und übereinander lernen. Neben Komplementär- geht es in dieser Woche auch um Palliativmedizin.

«Diese Fokuswoche, in der angehende Ärztinnen und Pflegenden zusammen lernen, ist ein Schritt in die richtige Richtung», sagt David Blum. «Wir sind stolz, eine Vorreiterrolle spielen zu dürfen, schliesslich ist die Interprofessionalität ein wichtiger Bestandteil unseres Fachbereichs.» Vor zehn Jahren herrschte an der Universität Zürich noch Eiszeit, was das Palliative-Care-Angebot betrifft: Steffen Eychmüller und Kolleginnen hatten in einer 2012 durchgeführten Studie das Angebot an allen Zürcher Universitäten mit den Empfehlungen der europäischen Palliative-Care-Organisation EAPC verglichen – und Zürich schnitt schlechter als Basel, Lausanne, Genf und Bern ab. Mit Blums Professur und der Fokuswoche wurde der Stellenwert der Palliative Care an der medizinischen Fakultät der UZH zumindest ein wenig erhöht. Trotzdem sei das Angebot auch heute noch zu dürftig, hält David Blum fest. Denn in Zürich ist es leider weiterhin möglich, als Medizin-Studentin beinahe um Palliative Care herumzukommen

«Palliation ein Grundpfeiler der Gesundheitsversorgung»

In der Pflege-Ausbildung ist die Palliative Care hingegen fest verankert. An den höheren Fachschulen, an denen Pflegende ihre Ausbildung machen, sowie an den Fachhochschulen, wo heutzutage Pflege auch im Bachelor studiert werden kann, ist die Palliative Care fester Bestandteil der Grundausbildung. Sarah Häusermann, Leiterin Entwicklung und Pädagogik im Bachelor Pflege an der ZHAW und Dozentin für Palliative Care, begründet: «Palliation ist neben Prävention, Kuration und Rehabilitation ein fester Grundpfeiler der Gesundheitsversorgung. Deshalb gehört Palliative Care auch in den Lehrplan.» Festgehalten wird dieser Grundsatz auch im Bundesgesetz über die Gesundheitsberufe, die an Hochschulen studiert werden können.

An der ZHAW müssen die Studierenden im Bachelor-Studiengang Pflege im vierten Semester ein ganzes Pflicht-Modul zum Thema Palliative Care absolvieren. Dessen Ziel ist es, dass die Studierenden Grundlagen erwerben zur Begleitung von Betroffenen und ihren Familien, dass sie über Fachwissen zum ganzheitlichen Symptommanagement in palliativen Situationen verfügen sowie ihre kommunikativen Skills für solche Situationen trainieren können. Letztere üben sie zum Beispiel in einer sogenannten High-Fidelity-Simulation mit Hilfe eines Modells und einer Schauspielerin. Das Modell ist eine Puppe, die veränderte Vitalzeichen signalisiert oder pathologische Geräusche äussert. In der palliativen Situation macht sich auf diese Weise zum Beispiel eine akute Atemnotverschlechterung bemerkbar. Die Studierenden werden in ihrer Interaktion mit «Patientin» und angehöriger Person gefilmt. Sara Häusermann erklärt: «Die Situation mit Modell und Schauspielerin ist viel näher am echten Arbeitsalltag der angehenden Pflegefachpersonen als eine theoretische Vorlesung. Im Debriefing stellen die Studierenden dann zum Beispiel fest, dass der Bruder der Patientin, die unter Atemnot leidet, am Bett nicht nur stört, sondern auch eine beruhigende Wirkung auf sie hat». Die High-Fidelity-Übung stärkt die Selbstwirksamkeit der Studierenden, das hat Häusermann auch in ihrer Doktorarbeit festgestellt. «Die Pflegenden in Ausbildung erlangen Selbstvertrauen, dass sie auch kritische Situationen gut meistern können.»

Die Absolvent:innen des Bachelor-Studiengangs Pflege an der ZHAW investieren um die 90 Lernstunden in die Palliative care. Das ist laut Sara Häusermann mindestens vergleichbar mit dem von der Fachgesellschaft für Palliative Care definierten Niveau A2.

Lebensqualität verbessern statt heilen

Weshalb ist im Pflegestudium der Stellenwert der Palliative Care per Bundesgesetz verankert und im Medizinstudium nicht? Palliativprofessor David Blum hält nichts von Zwängen. Er findet, es müssten nicht gleich alle Palliative-Care-Spezialistinnen und -Spezialisten werden. «Es ist schon viel erreicht, wenn angehende Ärztinnen und Ärzte über ein Verständnis für Palliative Care verfügen. Sie dürfen die Sterblichkeit nicht ausklammern und müssen kompetent darin sein, ein Trauergespräch zu führen.» Vertiefte Kenntnisse könnten sie auch in ihrem Praktikumsjahr erlangen. Er selbst sei auch erst zu diesem Zeitpunkt mit Palliative Care in Berührung gekommen.

Medizinstudentin Moë Fitzlaff hat sich in den acht Wochen, in denen sie Palliative-Care-Luft geschnuppert hat, auch mit den gegensätzlichen Begriffen Kuration (Heilung) und Palliation (Linderung) auseinandergesetzt. «Ich habe die Ärztinnen und Ärzte, mit denen ich zu tun hatte, gefragt, ob es nicht unbefriedigend sei, wenn stets alle Patientinnen und Patienten schliesslich sterben. Sie sagten, nein, es sei sehr erfüllend, jemandem bis dahin eine gute Lebensqualität bieten zu können. Das leuchtete mir total ein.»
palliative zh+sh / Sabine Arnold