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«Niemanden lässt eine solche Diagnose kalt»

«Niemanden lässt eine solche Diagnose kalt»

Barbara Leu ist eidgenössisch anerkannte Psychotherapeutin und Psychoonkologin SGPO. Sie arbeitet am Zürcher Lighthouse und am Stadtspital Zürich Waid. (zvg)

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25. Juli 2023 / Wissen
Eine Krebserkrankung hat weitreichende Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen und Angehörigen - auch seelische und soziale. Ein Interview mit Barbara Leu, Psychotherapeutin und Psychoonkologin.
Eine Krebsdiagnose ist ein Schock. Wie reagiert ein Mensch auf eine solche Nachricht?

Barbara Leu: Man spricht in Medizin und Psychologie vom «Diagnoseschock Krebs». Niemanden lässt eine solche Diagnose kalt, aber die Reaktionen sind individuell. Wir haben alle urmenschlichen Reflexe und Reaktionen: Kampf, Flucht oder Starre. Ich höre immer wieder Betroffene sagen: «Ich kämpfe gegen den Krebs an». Dann gibt es die Flucht, also ein Verdrängen der Tatsachen – «ich möchte das gar nicht wissen». Und wir sehen die Schockstarre, wo der Erkrankte gar nichts mehr denken kann und es ihm den Boden unter den Füssen wegzieht.

Welche Ängste stehen im Zentrum?

Aus meiner Erfahrung steht die Furcht vor Kontroll- und Autonomieverlust zuvorderst. Wir müssen in unserer Gesellschaft sehr autonom sein, möglichst alles selbst machen. Deshalb kommt die Angst auf, plötzlich abhängig von anderen zu sein und ihnen zur Last zu fallen. Und die Angst bezüglich diverser Verluste ist gross – vor allem vor dem, was nicht mehr möglich ist und sich radikal verändern wird. Zum Beispiel, dass man plötzlich anders aussehen wird wegen der Krankheit oder die Kontrolle über seine Körperausscheidungen verliert. Auch kognitive Ängste sind da, zum Beispiel vor Bewusstseinseintrübungen. Viele Leute möchten lieber nicht absolut schmerztherapiert werden, sondern wach und ansprechbar bleiben.

Wie sieht es mit den sozialen Ängsten aus?

Auch die kommen: Die Angst verlassen zu werden. Kein soziales Netz mehr zu haben, ganz allein zu sein. Im Beruf kommt es mit fortschreitender Krankheit oft zum Verlust des Arbeitsplatzes, was wieder finanzielle Sorgen bereitet.

Ist der Tod an sich sofort ein Thema oder vorerst nur die Krankheit?

Der Psychoanalytiker Irvin D. Yalom hat in seinem Buch «In die Sonne schauen» geschrieben: «Auch ich fürchte den Tod wie jeder Mensch. Er ist unser düsterer Schatten, der sich nicht abschütteln lässt.» Er spricht davon, dass die grösste Herausforderung des Menschen sei, seiner eigenen Sterblichkeit ins Auge zu blicken. Und das erlebe ich auch in der Praxis. Im Moment, wo die Betroffenen eine Krebsdiagnose erhalten, haben sie Todesangst. Keine andere Krankheit wird so sehr gefürchtet.

Kommt auch die Frage nach dem Warum?

Ja, diese Frage kommt. Ich erlebe sie aber vor allem als eine moralische Frage, die sehr eng auch mit Selbstverschulden verbunden ist. Besonders gesundheitsbewusste und sportliche Menschen stellen sie sich. Sie haben sich so sehr bemüht, gesund zu leben, haben nicht geraucht oder Alkohol getrunken, und jetzt erkranken sie trotzdem. Das ist dann besonders schwer. Und jene, die vielleicht weniger gesund gelebt haben, sagen manchmal: «Jetzt erhalte ich halt die Quittung.» Hier hat das Umfeld weniger Verständnis. Also wird wieder moralisch geurteilt.

Und wie gehen Sie als Psychoonkologin auf diese Warum-Frage ein?

Ich sage oft: «Wir wissen es einfach nicht.» Natürlich gibt es Korrelationen, zum Beispiel, dass Rauchen in erhöhtem Masse Krebs verursacht –, aber es muss nicht zwingend sein. Wir wissen nicht, weshalb letztlich Zellen mutieren. Früher war die Frage nach dem Warum noch häufiger. Über die Vorstellung, dass jemand falsch gelebt hat, zu viel Ärger hatte oder Ähnliches, ist man heute zum Glück hinweg.

Sie sind Psychoonkologin und seit langem auf Palliativstationen und im Hospiz tätig. Worin unterscheiden sich «normale» Psychologie und Psychoonkologie?

Den grössten Unterschied sehe ich darin, dass in der Psychoonkologie der Patient oder die Patientin und die Angehörigen gleichermassen im Zentrum meiner Arbeit stehen – die Angehörigen sind miteinbezogen. Bei der «normalen» Psychologie arbeite ich mit einer Klientin und vielleicht kommen an einer Sitzung mal der Partner oder die Kinder dazu – aber das ist dann einmal und ich bin nicht bei beiden kontinuierlich an deren Seite. In der psychologischen Praxis geht es um psychiatrische Krankheitsbilder, Depressionen, Zwangserkrankungen, Persönlichkeitsstörungen – und da braucht es eine Diagnose und daraus abgeleitete personbezogene Interventionen. Bei der Arbeit mit Palliativpatientinnen und -patienten geht es um die normalen Reaktionen auf ein äusserst kritisches Lebensereignis, es geht um Ängste, Stimmungsschwankungen, existenzielles Leiden. Da gehe ich supportiv darauf ein, begleite als Psychologin die Menschen, aber lasse mich nicht hineinziehen. Die erkrankte Person muss wissen, dass da jemand ist, der das Leid mit ihr aushalten kann.

Gibt es Lebensbereiche, die besonders zu Wort kommen?

Ältere Leute erzählen gerne aus ihrem Leben – vor allem Kinder und Enkel sind ein Thema. Beziehungen werden reflektiert und vielleicht eine Art Lebensrückblick gemacht. Dabei kommt auch zur Sprache, was im Leben nicht so gut gelaufen ist. Dann versuchen wir das gemeinsam einzuordnen. Im Vordergrund von allen Belastungen stehen aber die Symptome, an welchen der Patient oder die Patientin leidet oder noch leiden wird – konkret: die Angst vor Schmerzen oder dem Ersticken. Bei den Jüngeren steht oft die Frage im Zentrum: «Wie geht das Leben meiner Liebsten ohne mich weiter?»

Suchen die Menschen einen Sinn hinter der Krankheit?

Das ist sehr individuell. Manche sehen in der Krankheit einen fatalen Schicksalsschlag, andere aber suchen in ihr einen Sinn. Das ist auch kulturell bedingt. Wir betreuen auch Menschen mit einem anderen kulturellen/religiösen Hintergrund, die zwar gesund werden wollen, aber auch im Sterben einen Sinn sehen. Auch tief christliche Leute sehen oft einen Sinn. Das entlastet mich als Psychoonkologin, denn dann weiss ich, dass diese Patienten gut aufgehoben sind in ihrem eigenen Glauben.

Und glauben Sie selbst an einen Sinn der Krankheit?

Nein. Ich habe da eine etwas spezielle Position. Ich glaube nicht an einen Sinn der Erkrankung an sich – so nach dem Motto «Jede Krise hat ihren Sinn». Was ich aber glaube und immer wieder höre ist, dass Menschen am Lebensende bewusster leben als je zuvor. Oder dass sie sich nun auch an kleinen Dingen freuen können. Dass sie das Tempo rausnehmen konnten und nicht mehr auf der Überholspur leben.

Beeinflussen psychische Faktoren den Krankheitsverlauf?

Sie haben sicher einen Einfluss auf die Krankheit, vielleicht eher nicht auf den medizinischen Verlauf. Bei der Bewältigung der Krankheit spielt die Psyche aber eine wichtige Rolle. Wenn jemand hoffnungsvoll ist, realistisch hoffnungsvoll, dann hat das einen Einfluss. Auch einen starken Willen haben, hat einen Einfluss. Die Leute leben zum Teil länger, können dadurch aber auch einen längeren Sterbeprozess haben.

Sie haben es schon erwähnt, die Angehörigen nehmen in der Palliative Care eine wichtige Rolle ein. Wie können Sie als Psychoonkologin die Angehörigen konkret unterstützen?

Die Betreuung der Angehörigen ist ein wesentlicher Bestandteil der Psychoonkologie. Ich bin oft in den Patientenzimmern, wenn die Angehörigen zu Besuch sind, da lerne ich sie kennen und spreche mit ihnen über ihre Herausforderungen und Anliegen. Aber auch wenn der Patient oder die Patientin gestorben ist, darf ich im Hospiz Gespräche anbieten und so für eine Nachbetreuung sorgen. Dieses Angebot wird rege in Anspruch genommen. Es ist sehr wichtig, dass die Angehörigen auch in der Trauerphase psychologisch betreut werden. Derzeit wird zu diesem Thema auch eine Studie gemacht. Diese «Best-for-familiy-Studie» soll aufzeigen, welche Angebote es bereits gibt und wie ein künftiger Versorgungspfad aussehen soll. Auch ein Zeitplan gehört dazu. Welche Hilfestellung brauchen die Angehörigen zu welchem Zeitpunkt? Die Erkenntnisse aus den Untersuchungen sollten Anfang nächstes Jahr implementiert werden können.

Die Medizin hat Ihre Grenzen. Wie schwer ist es für Angehörige und Patienten, diese Grenzen zu akzeptieren?

Es gibt Patientinnen und Patienten, die das nicht verstehen. Aber in der Regel sind es eher die Angehörigen, die mit Unverständnis reagieren. Dies kann heftig sein. Solange der Patient isst und trinkt, glauben die Nächsten an eine Verbesserung der Situation. Hört er auf zu essen und die Palliativmediziner greifen nicht ein, dann heisst es manchmal von den Angehörigen: «Die lassen meinen Liebsten einfach sterben. Die lassen ihn verhungern!». Die Grenzen der kurativen Behandlung zu akzeptieren, ist hart.

Interdisziplinäre Arbeit ist in der Palliative Care besonders wichtig. Wie erleben Sie diese an Ihren Arbeitsstellen im Hospiz Zürcher Lighthouse und auf der Palliativstation im Stadtspital Zürich Waid?

Das interdisziplinäre Miteinander erlebe ich im Stadtspital Zürich Waid und im Lighthouse als sehr gut. Aber das muss gepflegt werden und es muss etabliert sein. Es braucht die Medizin, die Pflege, die Seelsorge, die Psychoonkologie, den Sozialdienst, Musik-, Kunst- oder Hundetherapie. In den Tools liest man die Einträge der anderen Fachpersonen zum jeweiligen Patienten. Da sehe ich dann vielleicht, dass eine Frau mit der Kunsttherapeutin an ihrer Biografie arbeitet und kann bei Bedarf auch psychologisch darauf eingehen. Das gibt schöne Synergien. Und dann gibt es einmal die Woche einen interdisziplinären Rapport, wo alle zusammenkommen und jeden Bewohner, jede Patientin besprechen. So fliessen die verschiedenen Perspektiven ein. Dafür nimmt man sich auf einer Palliativstation oder im Hospiz wirklich Zeit.
palliative zh+sh / Bettina Weissenbrunner