Lieve Romaninos Tante ist schwerkrank. Die Ärzte gaben der 73-jährigen Belgierin noch bis Ende April zu leben. Sie leidet an metastasiertem Eierstockkrebs und feierte an einem Sonntagnachmittag Ende April ihre eigene Abdankung. «In Dankbarkeit für eure Liebe und Freundschaft in den vergangenen Jahren lade ich euch herzlich ein», schrieb sie in ihrer Einladung. «Ich möchte im Leben Abschied nehmen, nicht nach dem Tod. Ich möchte selbst noch da sein. Kommst du auch?»
Von den aussergewöhnlichen Plänen ihrer Tante und Patentante, ein sogenanntes Living Funeral zu feiern, wusste Lieve Romanino bereits seit Herbst. Sie arbeitet als Kinderpsychologin in Zürich, ist verheiratet und hat zwei Söhne. Sowohl ihr Vater als auch ihre Mutter, die in Belgien lebten, starben beide relativ unvermittelt an einer schweren Krankheit. Zu ihrer Tante hat sie unter anderem deshalb ein sehr enges Verhältnis. «Die Idee passt total zu ihr. Sie ging immer ihren eigenen Weg», sagt Romanino ein paar Wochen später bei einem Sirup auf ihrem Balkon. Den Ausschlag gaben die Beerdigungen, an denen die Tante selbst teilnahm und jedes Mal dachte, wie schön es gewesen wäre, wenn die Verstorbenen die lieben Worte über sich noch gehört hätten.
Knapp hundert Gäste kamen ihrer Einladung zur «Koffietafel» nach, was auf Flämisch so viel wie «Kaffee und Kuchen» bedeutet und oft nach einer Abdankung gereicht wird. Romanino reiste für dieses Wochenende ebenfalls nach Belgien. Sie habe sich gefreut, alle zu sehen, etwas nervös sei sie aber auch gewesen, «weil ich nicht wusste, wie es ablaufen wird». Die Gastgeberin wirkte der zu Beginn angespannten Stimmung entschlossen entgegen, indem sie das Fest selbst mit einer Rede eröffnete. Sie rief dazu auf, «nicht zu trauern und Abschied zu nehmen, sondern das Leben zu feiern und Danke zu sagen». Seit vier Jahren wusste sie von ihrer schweren Erkrankung, war die ganze Zeit in Behandlung und sprach auch offen darüber, hielt zum Beispiel Vorträge für Interessierte und gab einer Journalistin Auskunft darüber, welche Tipps sie als Krebspatientin gerne erhalten hätte. Ihre Antwort damals war: «Setze dir selbst immer wieder schöne Ziele und rede dir Mut zu.»
Dem Tod die Schwere nehmen
Das Ziel, an der eigenen Beerdigung teilzunehmen, teilen immer mehr Menschen, sagt Stefanie Schillmöller. Die Trendforscherin mit Fokus auf Tod und Erinnerung, die in den Niederlanden lebt, berät Unternehmen und Privatpersonen darin, «den Tod neu zu denken». Kürzlich berichteten niederländische Medien über das Living Funeral eines Mannes, der sich ein Leben lang für Behindertenrechte einsetzte. Wie Romaninos Tante war er ebenfalls neugierig, was andere über ihn sagen würden und betrachtete den Tod mit einem Augenzwinkern. Bei ihm müsse nicht immer alles so schwer sein, wurde er in einer Zeitung zitiert. Deshalb behielt der Humor auch die Oberhand an seiner Feier, die er zusammen mit einem Bestatter organisierte und der er in einem Pflegebett beiwohnte.
Wer will an seiner eigenen Trauerfeier dabei sein? «Grundsätzlich sind das Menschen, die ein besonderes Verhältnis zu ihrem Sterbeprozess und eine positive Einstellung zum Leben haben», sagt Schillmöller. «Living Funerals bieten die Möglichkeit, das eigene Leben zu feiern und positive Erinnerungen zu schaffen. Es geht darum, gemeinsam mit geliebten Menschen Momente der Freude, des Lachens und der Dankbarkeit zu teilen und das Leben zu würdigen, anstatt sich ausschließlich auf den Tod zu konzentrieren.» Ausserdem hätten wohl die meisten Organisatorinnen und Organisatoren eine längere Krankheitsphase hinter sich, die ihnen viel Zeit gab darüber nachzudenken, wie sie ihren Abschied gestalten wollen. Nicht zuletzt sollten sie körperlich und geistig noch fit genug sein, um das Fest geniessen zu können.
«Meine Tante sass sonst hauptsächlich im Rollstuhl. An ihrer Abschiedsfeier aber stand sie fast die ganze Zeit. Sie genoss die Reden von Freundinnen, Arbeitskollegen, ihrem Bruder und die Fotopräsentation ihrer Kinder. Die Begegnungen mit den vielen lieben Menschen gaben ihr richtig Auftrieb», erzählt Lieve Romanino. Zwischen den Darbietungen sei die Stimmung ausgelassen gewesen, wie an einem normalen Fest.
Auch andere Enden feiern
Zwar entsprechen Living Funerals einem aufkommenden Trend, doch viele Beispiele gebe es noch nicht dafür, sagt Stefanie Schilllmöller, vor allem nicht in deutschsprachigen Ländern. In den USA hingegen sei die Praxis bekannter. Hier findet sie sich auch im Angebot von Bestattern. Dass die Niederlande oder Belgien zuerst von diesem Trend erfasst werden, hat vermutlich mit der «anderen Kultur» zu tun, die den Umgang der Menschen mit dem Tod prägt. Dieser zeigt sich auch in einer liberalen Haltung bezüglich Suizidhilfe. Die Trendforscherin zieht eine Parallele zu einem anderen Phänomen, die auf den ersten Blick erstaunen mag. «Mir begegnen immer wieder Paare, die ihre Trennung oder Scheidung mit sogenannten Break-Up-Partys zelebrieren.» Wir Menschen hätten ein eher schwieriges Verhältnis zu Dingen, die zu Ende gehen, erklärt sie. Deshalb sei es hilfreich, wenn wir nicht nur das Lebensende, sondern auch andere Abschiede bewusst zelebrieren würden.
Ähnlich sieht das Marianna Reinhard, Bestatterin im Kanton Bern. Selbst nahm sie erst einmal an einer Abschiedsfeier für eine Freundin teil, die ein paar Freunde noch zu Lebzeiten für sie organisierten inklusive Alphorn-Konzert. Eine Woche darauf schied die Freundin mithilfe assistierten Suizids aus dem Leben. «Ich bewunderte sie für die Natürlichkeit, die sie dem Tod gegenüber lebte, und für das Bewusstsein, mit dem sie ihm begegnete.» Als Bestatterin, die ganz persönliche Wünsche erfüllt, zum Beispiel Bestattungen in freier Natur, hat Reinhard noch nie ein Living Funeral umgesetzt, würde jedoch gerne Menschen dabei unterstützen. Sie ist überzeugt, dass eine solche Feier Hinterbliebenen im Trauerprozess hilft. «Wenn ein Abschied gelingt, kann man anders weitergehen.»
Es ist Anfang Juli und Lieve Romaninos Tante lebt immer noch. Ihre eigene Abschiedsfeier habe sie wohl beflügelt und ihr Wohlbefinden gesteigert, vermutet Romanino. Sie hat die Vergissmeinnicht-Samen, ein Give-Away der Abschiedsparty, bereits gesät. Ihre Gotte bestimmt auch ihren allerletzten Weg selbst. Sie informiert ihren Arzt, sobald das Leiden für sie unerträglich geworden ist. Innert zwei Tagen wird er ihr das todbringende Medikament verabreichen. Eine Trauerfeier gibt es danach nicht mehr. Die Patentante hat ihren Körper der Wissenschaft zur Verfügung gestellt. Für die Nichte ist der Gedanke nicht ganz einfach zu verdauen, dass nach dem Tod ihrer Tante gar kein Trauerritual mehr stattfinden wird. Aber die vielen schönen Erinnerungen an sie, auch ans Living Funeral, und das Vergissmeinnicht, das allmählich spriesst, werden sie ein bisschen trösten.