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Fachtagung 2023: «Und wie geht es Ihnen?»

Fachtagung 2023 von palliative zh+sh in der Paulus Akademie Zürich. (Fotos: bw)

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12. Juni 2023
An der Fachtagung von palliative zh+sh standen für einmal nicht die Patientinnen und Patienten, sondern deren Angehörige im Zentrum. Wie geht es jenen, die ein schwerstkrankes Familienmitglied betreuen und begleiten? Was können die Fachleute tun, um den oft schweren Weg für die Nächsten etwas leichter zu machen? Die Tagung gewährte einen Einblick in Forschung und Praxis.
«Es glaubt mir keiner, was ich da zuhause erlebt habe in den letzten Wochen.» Diese Aussage machte eine Angehörige gegenüber Dr. med Hannah Schlau. Die Palliativexpertin ist Leitende Ärztin am Kompetenzzentrum Palliative Care Stadtspital Zürich und Vizepräsidentin von palliative zh+sh. Sie führte in die Fachtagung 2023 ein und zeigte mit diesem Satz exemplarisch, dass die Angehörigen von Palliativpatienten nicht selten durch das Betreuungsnetz fallen. Die vertrauten Bezugspersonen engagieren sich möglicherweise täglich für den Kranken, gehen über ihre psychischen und physischen Grenzen – und werden oft in ihren Bedürfnissen vergessen. Vergessen von Freunden, anderen Familienmitgliedern und auch nicht selten von den Fachleuten. «Es ist zentral, dass wir die Mitbetroffenen als Teil der Behandlungseinheit, der «Unit of Care» sehen», sagte Hannah Schlau. Denn die Herausforderungen sind vielfältig: Von körperlicher Belastung und Erschöpfung, über Ängste und Einsamkeit bis hin zu finanziellen Nöten und Existenzfragen. Und dann die Ungewissheit: Wird das ein Marathon oder ein Kurzstreckenlauf? Wie muss ich meine Reserven einteilen?

Einsamkeit und Isolation

Eine der grossen Belastungen für die Angehörigen ist die Einsamkeit, die Isolation. Dies legte Franzisca Domeisen Benedetti, PhD am Institut für Pflege der ZHAW, dar. «Nationale und internationale Forschungsbefunde weisen auf erhöhte Einsamkeit und soziale Isolation bei den Pflegebedürftigen, aber auch bei betreuenden Angehörigen hin. Sie sind eine vulnerable Gruppe», erklärte sie. Einsamkeit ist eine unangenehme Erfahrung, bei der ein Individuum sein soziales Netz als unzureichend empfindet. Es gibt Faktoren, die Einsamkeit und soziale Isolation begünstigen können, etwa, wenn jemand allein mit einer erkrankten Person lebt, wenn keine Freunde oder Verwandte zur Seite stehen. Auch Bildungshintergrund, Einkommen und eigene gesundheitliche Schwierigkeiten haben einen Einfluss. Einsamkeit ist multidimensional: sie kann sozial, existenziell, emotional sein. Persönliche Bedürfnisse treten in den Hintergrund, das eigene Leben gerät ins Stocken. Eine besondere Herausforderung seien chronische Krankheiten, wie Franzisca Domeisen Benedetti in ihrem Referat sagte. Ein Zitat einer Angehörigen zeigt das eindrücklich: «Es geht einfach, es muss einfach gehen. Ich werde also nicht depressiv oder einsam, ich denke einfach nicht an all das, was kommen könnte und kommen wird.»

Zwischen Onkologie und Neurologie

Das Referat von PD Dr. med. Caroline Hertler vom Kompetenzzentrum Palliative Care des Universitätsspital Zürich zeigte auf, warum Hirntumore für Angehörige besonders belastend sind. Patient und Zugehörige stehen an der Schnittstelle von Onkologie und Neurologie. Für Hirntumore gibt es weder einen Auslöser noch Prävention. Von Beginn an sind die Betroffenen palliativ und bis zu 90 Prozent aller Patientinnen und Patienten mit maligen Hirntumoren haben bereits bei der Diagnosestellung neurokognitive Defizite. Dabei sind meistens Sprache, Gedächtnis und Aufmerksamkeit betroffen. Dies alles führt nicht selten zu Überforderung der Angehörigen, in diesem Referat auch Care Giver genannt. Der Care Giver organisiert den Alltag, unterstützt den Patienten, geht vielleicht noch seinem Job nach und steht zwischen Kindern und dem kranken Partner, der Partnerin. Und was heisst das für die Fachpersonen? Sie sollen die Angehörigen als integralen Bestandteil des Behandlungssystem verstehen, denn deren Unterstützung ist für die Patientin essenziell.

Nachsorge nicht vergessen

Nicht nur die Unterstützung der Angehörigen während der Krankheit ihres Nächsten ist wichtig, auch der Nachsorge nach einem Todesfall sollte mehr Beachtung geschenkt werden. Dies zeigte Dr. phil. Qëndresa Thaqi auf. Sie arbeitet am Institut für Implementation Science in Health Care an der Universität Zürich und hat sich in ihrer Forschung mit der Nachsorge von Familien am Lebensende und im Trauerfall auseinandergesetzt. Anhand von drei Studien erläuterte sie, dass evidenzbasierte Betreuung am Lebensende konsistenter und besser etabliert ist als die evidenzbasierte Nachsorge im Trauerfall. Bei der Nachsorge gibt es Barrieren, wie beispielsweise die Organisation- und Versorgungskultur oder das Problem der Abrechnung der geleisteten Arbeit. Deshalb sei die Implementierungsforschung der Nachsorge wichtig. Sie soll eine effiziente Integration der Fachempfehlungen ermöglichen und eine Grundlage bieten für die weitere Qualitätsentwicklung. Denn die Unterstützung und Nachsorge von trauernden Familien findet zwar statt, dies zeigen Studien, aber sie ist häufig nicht systematisch und wenig strukturiert.

Palliative Care bei Kindern

Das letzte Referat der Tagung 2023 hielten PD Dr. med. Eva Bergsträsser sowie Dipl. Expertin Intensivpflege und Leiterin Care Team Claudia Dobbert, beide vom Universitätskinderspital Zürich. Sie gaben mit Beispielen aus der Praxis einen Einblick, was Familie bedeutet, wenn es um Palliative Care bei Kindern geht. Dabei stellten sie die «integrated care» vor, bei der die integrierte Betreuung das Ziel sein sollte. Denn wenn die ganze Familie ein integrierter Bestandteil der bio-psycho-sozialen Betreuung ist, werden Autonomie und Kompetenz der Eltern gestärkt und auch die gemeinsame Entscheidungsfindung von Fachpersonen und Eltern wird erleichtert. Die familienzentrierte Pflege ist gerade bei Kindern wichtig, wie Claudia Dobbert betonte. Die Eltern kennen ihr Kind am besten und können den Fachleuten wichtige Inputs geben. Manchmal brauchen sie die Anerkennung und Ermutigung gegenüber ihren Entscheidungen für das Kind. Und: wichtigstes Ziel aller Bemühung sollte sein, dass das Kind nicht leidet.

In der abschliessenden Podiumsdiskussion, moderiert von Elena Ibello, schilderte unter anderem ein Angehöriger, wie er die Betreuung seines Vaters vom spezialisierten mobilen Palliativdienst und dem Kompetenzzentrum Palliative Care des Spitals Affoltern erlebt hatte und was ihm wichtig war. «Die Betreuung meines Vaters war eine sehr schöne Erfahrung für uns», sagte er rückblickend. In der Zeit zu Hause sei die Begleitung mit den Fachleuten Hand in Hand verlaufen. «Wir konnten jederzeit anrufen, wenn etwas war. Das gab Sicherheit, und sowohl wir als auch mein Vater fühlten uns wohl.» Thaqi bemerkte dazu, dass auch ihre Forschung gezeigt habe, dass 60 Prozent der Angehörigen gut klarkomme. Wichtig sei für die Angehörigen aber zu wissen, was zu tun sei, wenn es dem Patienten schlechter gehe oder der Betreuende an seine Grenzen komme. «Hinweise darauf, wo es die nötigen Informationen gibt, falls man sie braucht, ist zentral für die Angehörigen». Und wie ist das in der Trauerzeit? Dort scheint der Bedarf noch gross zu sein und Angebote müssten gefördert werden, waren sich die Fachleute auf dem Podium einig. Die über 100 Teilnehmenden, hauptsächlich aus den Bereichen Pflege und Medizin, nahmen vielfältige Informationen und Anregungen aus der Fachtagung mit auf den Weg. Über den einen oder anderen Input konnten sich die Fachpersonen der Palliative Care am anschliessenden Apero unterhalten. Dieser Austausch ist wichtig, damit in der Palliative Care die Angehörigen nicht durchs Betreuungsnetz fallen. Und deshalb ist sie angebracht und wird vielleicht in Zukunft öfter gestellt - die Frage: «Und wie geht es Ihnen?»
palliative zh+sh / Bettina Weissenbrunner