Ihr neustes Buch widmet sich der autobiografischen Sterbeliteratur. Warum wollen Autoren über ihr eigenes Sterben schreiben?
Corina Caduff: Die Schreibenden in diesem Buch sind alle Berufsautorinnen und -autoren, die meisten davon Schriftstellerinnen. Sie machen am Ende ihres Lebens einfach das, was sie schon ein ganzes Leben lang gemacht haben – sie schreiben. Das ist das, was sie am besten können, und es ist das, was sie am liebsten machen. Es ist ihre Art, sich mit ihrem Sterben auseinanderzusetzen, es zu reflektieren und darstellbar zu machen.
Ist sterben nicht etwas Intimes?
Natürlich ist Sterben ein ausserordentlich intimer Prozess, gleichzeitig ist es aber auch ein Prozess, der immer unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen stattfindet. Jedes einzelne Buch bringt immer beides zum Ausdruck: Einerseits können wir deutliche individuelle Merkmale des Sterbens herauslesen, anderseits können wir sehen, wie sich heutige gesellschaftliche Bedingungen des heutigen Sterbens zeigen. Sich mit dieser Kombination auseinanderzusetzen, ist sowohl für die Autorinnen wie auch für die Leserinnen interessant.
Heisst das, dass Sterben und Tod heute doch nicht mehr so ein Tabuthema ist, wie viele glauben?
Es gibt seit ein, zwei Jahrzehnten einen sehr ausgreifenden öffentlichen Diskurs. In der Forschung boomt das Thema. Denken Sie nur an das nationale Forschungsprogramm zum Lebensende, das in den Zehnerjahren mit insgesamt 15. Mio. gefördert wurde. Ausserdem boomt das Thema nicht nur in der Literatur, sondern etwa auch in der Fotografie und auf der Bühne, es gibt auch immer mehr Dokumentarfilme übers Sterben, so wie Sterben und Tod überhaupt in allen Medien sehr präsent sind. Es ist offensichtlich ein Thema, das interessiert. Dabei gibt es eine grosse Spannbreite von tiefgehender, ernsthafter Auseinandersetzung bis hin zu popkulturellen Phänomenen, wie beispielsweise das Festival «Hallo Tod», welches 2023 zum zweiten Mal in Zürich stattfinden wird und genau auf dieser eventhaften popkulturellen Ebene anzusiedeln ist. Keine Frage: Das Thema Sterben interessiert die Gesellschaft.
Die Gesellschaft, aber auch den Einzelnen selbst?
Ja, denn es geht immer auch um Empathie mit unserem zukünftigen Ich. Denn eines Tages werden wir alle selbst Sterbende sein. Und zumindest für mich ist es so, dass die Bücher, die ich heute lese, mir dann wohl helfen werden.
Die todkranken Autoren beschreiben unter anderem ihre medizinischen Behandlungen. Gibt es da Erlebnisse, welche die Autoren ähnlich erlebt haben?
Gerade dabei geht es um gesellschaftliche Bedingungen, das heisst um die Bedingungen des heutigen Gesundheitswesens. Die Texte, die sich in «Ein letztes Buch» finden, stammen von Autorinnen und Autoren aus Australien, den USA und Europa – also aus der westlichen Welt. In den Berichten zeigt sich etliche Kritik am Gesundheitswesen, an den Institutionen und deren finanzieller Ausstattung, an der Kommunikation mit dem Gesundheitsfachpersonal, die oft als zu wenig nachhaltig und zu wenig empathisch beschrieben wird. Dementsprechend ist oft von Trauer, von Verzweiflung, vom Alleingelassen werden die Rede. Und wir sprechen hier von Patientinnen und Patienten, die während zwei, drei Jahren am Stück dauerhaft Patienten sind.
Die Leute sind heute länger Patient als früher, weil die Medizin besser ist …
Ja, wir haben heute eine Lebenserwartung, die dreissig Jahre höher ist als noch vor hundert Jahren. Das hängt mit einer allgemein gesünderen Lebensweise zusammen und natürlich damit, dass wir heute eine Hochleistungsmedizin haben, die auch am Lebensende greift, obwohl dies vielleicht nicht in allen Fällen geraten scheint. Es gibt immer für alles noch eine Therapie. Ob es richtig ist, diese Therapie noch anzubieten oder sie noch anzunehmen, ist ein weites und kontrovers diskutiertes Feld. Tatsache ist, dass wir dadurch nicht nur länger leben, sondern auch länger sterben.
Kommt an diesem Punkt in den Schilderungen der Autoren auch das Thema Palliative Care ins Spiel?
Die Palliative Care ist immer mal wieder Thema. Es gibt viele Schilderungen des Ringens. Man ringt um die richtige Medizin, um die richtige Therapie, um die richtige Ernährung und um die richtige Art von Spiritualität. Es gibt aber in den Texten, die ich ausgesucht habe, niemanden, der sagt «Ich möchte keine Therapie mehr machen, ich ziehe mich zurück und möchte in Ruhe sterben». Hier fehlt meines Erachtens bisweilen ein diskursive Angebot, das ausreichend Information gibt. Was bedeutet eine Lebensverlängerung, welche Auswirkungen hat solch gewonnene Quantität auf die Qualität des Lebens? Es wäre wichtig, dass man konkret ausformuliert, was genau man sich an Lebensqualität wünscht – das sind bei den einzelnen Personen sicherlich unterschiedliche Qualitäten: die eine beispielsweise möchte vor allen Dingen sozial gut umsorgt sein, ein anderer will noch so lange wie möglich mobil sein. Es ginge also auch darum, gezielt die individuell geltenden Qualitätsmerkmale zu unterstützen.
Fordern dies auch die Autorinnen oder Autoren?
Christoph Schlingensief etwa kritisiert die gegebenen Umstände sehr deutlich und dezidiert. Er sagt, dass man sterbende Patienten passiv macht und sich selber überlässt. Dass man sie nicht animiert, sich Gedanken zu machen und Wünsche zu formulieren. Wir sind in einem Gesundheitswesen, das alles vorgibt. Man ist in der Therapie, man ist in der Zeitstruktur des Krankenhauses, man ist immer in etwas drin und kann kaum mehr sagen, was man machen möchte, nicht sehen, wo man Gestaltungsmöglichkeiten hätte. Man fühlt sich bevormundet von der Gesundheitsindustrie und der jeweiligen Gesundheitsinstitution. Ich hoffe, dass man in Zukunft mehr Möglichkeiten bekommt, sein Sterben selbst zu gestalten.
Und in welchen Bereichen wäre das?
In vielerlei Hinsicht wäre das möglich. In medizinischer Hinsicht, dass der Prozess partizipativer gestaltet wird. Oder in raumzeitlicher Hinsicht, dass ich bei der Frage mitreden darf, wer mich wann, wie und wo betreut. Und gestalterisch, was das Design betrifft: Warum gibt es nicht schönere Möbel, weicheres Licht, eine angenehmere Atmosphäre in Palliative-Abteilungen? Und mehr Pflegeprodukte mit schönem Design?
Kann dies die palliative Medizin besser als die allgemeine Medizin?
Auch wenn die Palliative Care allgmein sicher experimentierfreudiger ist als die allgemeine Medizin, und auch wenn alle Beteiligten zweifellos versuchen darauf zu achten, mit den Patientinnen und Patienten gut zurechtzukommen und gut zu kommunizieren, so gibt es doch auch hier am Ende immer ein «Zuwenig von etwas». Hierzu haben wir im Buch einen sehr interessanten Beitrag von Paul Kalanithi. Das ist ein US-amerikanischer Arzt, der 37-jährig eine Lungenkrebs-Diagnose erhalten hatte. Sein Buch «Bevor ich jetzt gehe» schlug hohe Wellen, weil es eben das Werk eines Arztes ist, der aus der Community zu der Community spricht. Das Interessante ist, dass er vom Identitätswechsel vom Arzt zum Patienten berichtet. Er stellt sich die Frage, warum er sich bei der Geschäftigkeit im Chirurgenmantel nie gefragt hatte, was der Patient wirklich braucht. Er versteht erst als Patient, was sterbenden Patienten fehlt.
Das heisst, die Patientin sollte die Expertin sein?
Ich würde sagen: der Patient, die Patientin ist immer die Expertin. Genau das interessiert mich an der autobiografischen Sterbeliteratur. Sie ist ein kulturelles Repertoire von Wissen über das Sterben - ein Wissen von tatsächlich Betroffenen, die wissen, wovon sie sprechen. Das Gesundheitswesen tut meines Erachtens gut daran, auf diese Expertinnen und Experten zu hören.
In diesem Sinne ist die Lektüre von «Ein letztes Buch» vor allem etwas für die Fachleute?
Ich würde mich freuen, wenn die Szene der Palliative Care in dieses Buch hineinschaut und diesen sehr spezifischen O-Ton der Patientinnen und Patienten hört. Es wird in den Autobiografien alles sehr deutlich ausgesprochen, es handelt sich um ein gänzlich unverstelltes Sprechen. Dann ist das Buch gewiss für alle Leute interessant, die mit Sterbebegleitung zu tun haben sowie für An- und Zugehörige von Sterbenden. Vielleicht hilft es ihnen, sich Gedanken über die Kommunikation zu machen, wenn sie mit einer sterbenden Person zu tun haben. Und gewiss ist es auch etwas für die allgemeine Leserschaft, die sich mit diesen Themen auseinandersetzen mag. Nicht zuletzt ist dieses Buch etwas für Menschen, die selbst schwer erkrankt sind. Sie können ihre Ideen, Gedanken und Herausforderungen mit denjenigen vergleichen, die andere Personen in der gleichen Situation geäussert haben.
«Ein letztes Buch». Corina Caduff. Verlag Rüffer & Rub. ISBN: 978-3-907351-10-9
Die Vernissage findet am Mittwoch, 18. Januar, 19.30–20.30 Uhr im Friedhof Forum, Aemtlerstrasse 149, 8003 Zürich, statt. Anmeldung siehe Infokasten oben.