«Während das Sterben selbst unvermeidbar ist, sollte schlechtes Sterben vermeidbar sein.» Dieser grossartige Satz steht am Anfang und am Ende von Harvey Max Chochinovs Text, in dem er darlegt, weshalb und wie er seine würdezentrierte Therapie entwickelt hat, wie sie durchgeführt wird und wie sie wirkt. Der kanadische Palliativmediziner und Psychiater setzt sich seit den 1990er-Jahren mit den Bedürfnissen und Nöten sterbender Menschen auseinander.
«Wenn Würde letzten Endes etwas ist, wofür es sich zu sterben lohnt, dann ist sie es fürwahr wert, sorgfältig erforscht zu werden.»
Harvey Max Chochinov
Chochinov begann sich mit dem Konzept «Würde» zu beschäftigen, als er feststellte, wie wichtig dieser an sich schwammige Begriff für Menschen ist, die am Ende ihres Lebens stehen. Studien hatten ergeben, dass Menschen, die Suizidbeihilfe in Betracht zogen, häufig den Verlust von Würde als Grund angaben. «Wenn Würde letzten Endes etwas ist, wofür es sich zu sterben lohnt, dann ist sie es fürwahr wert, sorgfältig erforscht zu werden.»
In mehreren Studien befragten Chochinov und sein Forschungsteam also Patientinnen und Patienten, die sich in ihrer letzten Lebensphase befanden, direkt danach, was sie unter Würde verstehen. Daraus entstand ein recht detailliertes, aber einleuchtendes Würdemodell:
1. Es umfasst erstens krankheitsbezogene Aspekte, etwa wie unabhängig jemand noch ist und wie stark ihn oder sie gewisse Symptome belasten.
2. Zweitens beinhaltet das Modell das sogenannte «würdebewahrende Repertoire» oder existenzielle Aspekte, zum Beispiel Selbstkontinuität (Bin ich noch ich?), das Aufrechterhalten von Rollen und das Bedürfnis nach Generativität oder Vermächtnis. Letzteres bedeutet, dass Patientinnen und Patienten darüber nachdenken, wie sie über ihren Tod hinaus noch Einfluss auf ihre Nachkommen und Hinterbliebenen nehmen können. Der Vermächtnisaspekt ist für die Würdezentrierte Therapie von grundlegender Bedeutung.
3. Drittens definiert Chochinov ein «Inventar sozialer Würde»: Das sind soziale Aspekte wie zum Beispiel der Verlust von Privatsphäre, den jeder Patient mehr oder weniger erfährt, die Unterstützung durch sein soziales Umfeld oder dass man fürchtet, für andere zur Belastung zu werden.
«Wie möchten Sie, dass man sich an Sie erinnert?»
Auf jeden der genannten Aspekte könne man mit einer therapeutischen Intervention reagieren, so Chochinov. Auf die Frage «Wie möchten Sie, dass man sich an Sie erinnert?» könnte man mit der Würdezentrierten Therapie antworten. Diese psychotherapeutische Kurzintervention besteht aus wenigen Sitzungen zwischen Therapeutin und Patient.
Konkret führt die Therapeutin mittels eines standardisierten Fragenkatalogs mit dem Patienten ein Interview, das auf Tonband aufgezeichnet und danach verschriftlicht und zusammengefasst wird. Die Gespräche beginnen meist mit der Aufforderung, man solle ein wenig aus der Lebensgeschichte erzählen, «insbesondere über die Zeiten, die Sie am besten in Erinnerung haben oder die für Sie am wichtigsten sind». Daraus resultiert schliesslich ein sogenanntes Generativitätsdokument, ein schriftlicher Text bestehend aus Gedanken, die der Patient seinen Angehörigen hinterlassen möchte, oder Themen und Erinnerungen, die ihm am Herzen liegen. Die Therapeutin liest dem Patienten den fertigen Text in einer zweiten Sitzung vor, worauf er nochmals Änderungen vornehmen kann. Das vollendete Dokument erhalten schliesslich der Patient und die von ihm bestimmten Angehörigen.
Diese Therapie ermöglicht einerseits also die Herstellung von etwas Bleibendem, andererseits fühlt sich der Patient akzeptiert, anerkannt und wertgeschätzt.
«Die Würdezentrierte Therapie versucht, auf die Quelle des emotionalen Schmerzes abzuzielen.»
Die Wirksamkeit der Dignity Therapy wurde wissenschaftlich erforscht. Die erste klinische Studie dazu erschien im Jahr 2005. Über einen Zeitraum von zwei Jahren nahmen hundert Patientinnen und Patienten aus Australien und Kanada an der Studie teil. 91 von ihnen waren mit der Würdezentrierten Therapie zufrieden, 86 bewerteten die Intervention als hilfreich, 76 Prozent gaben sogar an, die Therapie habe ihr Würdegefühl gestärkt.
Die Evaluation fiel also sehr positiv aus, die Dignity Therapy entwickelte sich zum Erfolg. So schreibt denn Chochinov auch recht überschwänglich: «Die Würdezentrierte Therapie versucht, auf die Quelle des emotionalen Schmerzes abzuzielen [ergänzend zu den Schmerzmitteln, die das körperliche Schmerzempfinden ausschalten]. Sie möchte das Gefühl für Sinnhaftigkeit und Bedeutung stärken und zugleich […] das Selbstwertgefühl der Menschen steigern, auch kurz vor ihrem Tod.»
Die nun vorliegende deutsche Übersetzung ist ebenfalls dem grossen Echo geschuldet, das diese Therapieform weltweit erfahren hat. Zum ersten Mal wurde die Dignity Therapy 2002 beschrieben, seither dokumentieren Veröffentlichungen aus Dänemark, Grossbritannien, Portugal und Australien das internationale Interesse. In Deutschland habe die Intervention erstmal 2013 in einem Stuttgarter Krankenhaus stattgefunden, schreibt Palliativmediziner Martin Weber von der Universitätsmedizin Mainz in seinem Geleitwort. Seine Mitarbeiterin, Sandra Mai, hat das Standardwerk nun übersetzt. Damit leiste sie einen wichtigen Beitrag zur Verankerung der Würdezentrierten Therapie in der klinischen Praxis im deutschsprachigen Raum.
Nicht nur für Seelsorgende und Psychologen
Dieses Buch ist ein Muss, und zwar nicht nur für Seelsorgende oder Psychologen, die diese Therapieform anbieten wollen, sondern auch für Pflegende und Ärzt_innen, die ihren Patient_innen tatsächlich ganzheitlich begegnen wollen. Chochinovs Überlegungen weiten den Fokus auf die Person in ihrer Gesamtheit, weg von ihrer Krankheit, hin zum ganzen Menschen, hin zu den zahlreichen Rollen, die er einmal innehatte.
Wie diese Kurzintervention ablaufen soll, ist sehr genau beschrieben, von der Auswahl der Patientinnen und Patienten (nicht geeignet ist sie zum Beispel für jene mit einer Lebenserwartung unter zwei Wochen), den vorbereitenden Informationen und Fragen, über das Nachhaken im Gespräch und dessen Dauer, hin zum anschliessenden Prozess der Transkription und des Editierens.
«Kommunikative Fähigkeiten sind in der Medizin unerlässlich.»
Im Detail muss man das alles nicht wissen. Interessant ist es dennoch und es vermittelt Ideen für das häufig nicht leichte Gespräch mit Palliativpatient_innen. «Kommunikative Fähigkeiten sind in der Medizin unerlässlich», schreibt Chochinov, «dies gilt umso mehr, wenn wir uns mit Themen beschäftigen, die Leben und Tod betreffen.»
Zudem sind die eingestreuten Fallbeispiele spannend zu lesen. Sie zeigen, welch kostbaren Fundus an Geschichten man aus Menschen, die bald sterben werden, herauslocken und festhalten kann.