Die Teilnehmenden erfinden, Marceline Ingenhoest (rechts) fragt, Mariann Ganther schreibt: Zusammen befreien sie in der Fotostiftung Geschichten aus Bildern (Bild: sa).
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Die nächsten Anlässe finden im Frühling 2018 in der Fotostiftung Schweiz, Grüzenstrasse 45, 8400 Winterthur, statt. Sobald die Daten bekannt sind, werden sie auf der Website der Fotostiftung aufgeschaltet.
Eine Anmeldung ist erforderlich. Die Teilnehmerzahl ist beschränkt. Der Preis für vier Nachmittage liegt bei 60 Franken, inklusiv Imbiss für zwei Personen. Tel. 044 926 81 89 / 079 467 47 65,
Seit diesem Jahr gibt es in der Fotostiftung in Winterthur ein Angebot für Menschen mit Demenz. Anhand einer Fotografie können sie ihrer Fantasie freien Lauf lassen und so in der Gruppe eine Geschichte erfinden.
An den Wänden gerahmte Schwarz-Weiss-Fotografien, in der Ecke eine vergrösserte Reproduktion, darum herum eine Gruppe weiss- und grauhaariger Menschen auf Stühlen. Andere Museumsbesucher schauen neugierig. «Was sehen Sie auf dem Bild?», fragt Moderatorin Marceline Ingenhoest. Die fünf Mitglieder der Gruppe – zwei Männer, drei Frauen – zögern noch etwas. «Einen Kran», sagt jemand. «Ein Mensch», jemand anderer. Das sei ein Hafen, sagt schliesslich ein Mann. Ein Hafen wie jener in Basel am Rhein. Die Schiffe hier, die würden weit weg fahren, zum Beispiel nach London. Eine Frau sagt: «Mein Hirn gibt nichts frei. Entschuldigung.»
Neben dem Bild sitzt die Schreiberin, Mariann Ganther. Sie hält mit flinkem Stift die Äusserungen der Runde fest. An diesem Nachmittag haben Ganther und Ingenhoest Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen oder Begleitpersonen in die Fotostiftung in Winterthur eingeladen, «um Geschichten, die in einem Foto stecken, gemeinsam zu entdecken», wie Ingenhoest bei der Begrüssung sagt. Es gebe kein «falsch» und kein «zu viel».
Am öffentlichen Leben teilhaben lassen
Die Projektleiterinnen haben aus der aktuellen Ausstellung «Maschinenzeit» des Schweizer Fotografen Jakob Tuggener (1904–1988) ein Bild ausgewählt. Es ist eine Schwarz-Weiss-Fotografie. Im Vordergrund steht eine Frau neben einem Lastkahn, mit dem Rücken zum Fotografen. Ihr rennen Kinder entgegen, dem Quai entlang. Im Hintergrund sind Dampfschiffe zu sehen und mächtige Lastkranen. Die Veranstalterinnen haben das Bild aus praktischen Gründen vergrössert, damit alle einen Blick darauf werfen können. Wichtig aber ist, dass die sogenannten «aufgeweckten Foto-Geschichten» in den normalen Ausstellungsräumen stattfinden. Menschen mit Demenz sollen am öffentlichen Leben teilhaben.
Die Herren in der Runde sprechen von «Dieselmotoren», die transportiert werden, von Fahrten «von A nach B». Sie haben der Geschichte eine ziemlich technische Richtung gegeben. Die Moderatorin versucht, die Frauen in der Runde wieder mehr einzubeziehen, fragt sie, ob da auch «Lebewesen» seien. Da sieht Frau S. das Kind. «Das muss aber aufpassen», sagt sie.
«Wir bieten hier keine Therapie an, sondern es geht um Lebensqualität.» Mariann Ganther, Initiantin vom Projekt in Winterthur
Das Ziel dieses Projekts sei, Menschen mit Demenz einen entspannten Nachmittag zu bieten, ihre Freude und Fantasie zu wecken, sagt Ingenhoest. Denn der kreative Prozess sei von der Krankheit, trotz zunehmender Gedächtniseinbussen oder Schwierigkeiten bei der Wortfindung, immer noch möglich. Ganther meint gar, dass Menschen mit Demenz einen unverstellten Blick auf Dinge hätten, einer künstlerischen Perspektive ähnlich.
Sie ergänzt: «Wir bieten hier keine Therapie an, sondern es geht um Lebensqualität.» Dennoch stellen die beiden Initiantinnen stellen bei einzelnen Teilnehmenden einen positiven Verlauf fest. Pflegefachfrau Johanna Giger vom Winterthurer Alterszentrum Adlergarten hat Bewohnende an den Anlass begleitet. Sie sagt, dass einige völlig aus sich herauskämen, und es sei häufig nicht vorhersehbar, wer das sein werde. Sie hat die Erfahrung gemacht, «dass dem, der den Bezug zur Realität bereits verloren hat, der bereits fortgeschrittener ist in seiner Krankheit, das Assoziieren meist einfacher fällt».
«Durch das Verschriftlichen und das Vortragen der Geschichte, das Verdichten der Erzählstränge kommen die vorhandenen Ressourcen, die Kreativität und die Stimmung eines Nachmittags noch mehr zum Ausdruck.» Marceline Ingenhoest, Initiantin
Mariann Ganther setzt sich aufrecht hin und liest vor, was die Gruppe bereits herausgefunden hat, getragen, lebendig, und gibt so den Ideen aus der Runde noch einmal Gewicht. Die Teilnehmenden reagieren auf diese Zusammenfassung mit wohlwollendem Nicken und Lachen. Das Hören des gemeinsamen Produkts schafft ein Gruppenerlebnis.
Marceline Ingehoest drückt es so aus: «Durch das Verschriftlichen und das Vortragen der Geschichte während einer Session, das Verdichten der Erzählstränge kommen die vorhandenen Ressourcen, die Kreativität und die Stimmung eines Nachmittags noch mehr zum Ausdruck. Auch das Wiedererkennen eines Beitrags trägt zu Selbstvertrauen und Freude der Beteiligten bei.» Später wird die Geschichte abgetippt und zusammen mit einer Kopie des Bildes den Teilnehmenden verteilt.
Egal ob Malerei oder Fotografie
Die Foto-Geschichten finden seit diesem Frühling in der Winterthurer Fotostiftung statt. Sie entsprechen demselben Prinzip wie die «Aufgeweckten Kunst-Geschichten», die Menschen mit Demenz auf Entdeckungsreise ins Museum schicken. Initiiert hat dieses Angebot das Zentrum für Gerontologie an der Universität Zürich (ZfG). Heute wird es vom Kunsthaus Zürich eigenständig durchgeführt. Ingenhoest und Ganther haben sich in der Fondation Beyeler kennengelernt, wo sie bei einem ähnlichen Angebot dabei waren. Ob Malerei oder Fotografie spiele gar keine so grosse Rolle, sagt Ingenhoest bei einem Kaffee danach. Wichtig sei vielmehr, dass das ausgewählte Bild einen möglichst grossen Interpretationsspielraum lasse.
Ingenhoest ist Kunsthistorikerin und -vermittlern, Ganther hat Medienkunst und Gerontologie studiert. Sie starteten das Projekt in Winterthur diesen Frühling und haben Anfang Dezember eben die zweite Serie von je vier Nachmittagen beendet. Doch das Projekt geht weiter: Die beiden haben die Finanzierung für drei Jahre gesichert. In der Fotostiftung hätten sie zudem eine Partnerin gefunden, bei der das gegenseitige Vertrauen stimme und die sie grossartig unterstütze.
«Meine Mutter ist seit jeher an Kunst interessiert. Die Bildbetrachtung entspricht ihr viel mehr als zum Beispiel das Basteln im Heim.» Tochter einer Frau mit Demenz
Wichtig sind beim Museumsbesuch auch die Ehefrau, die Tochter oder Schwester, die diese Menschen mit Demenz begleitet haben. Sie erleben zusammen etwas Anderes als den Alltag zu Hause oder in einer Institution. Eine Tochter sagt, die Aufgeweckten Foto-Geschichten seien für sie «wie Ferien». Ein Dialog mit ihrer Mutter sei nicht mehr möglich, aber die Bilder und Geschichten würden sie beide trotzdem verbinden. «Ausserdem ist meine Mutter seit jeher an Kunst interessiert. Das entspricht ihr viel mehr als zum Beispiel das Basteln im Heim.» Initiantin Ingenhoest hat ebenfalls beobachtet, dass die Geschichte als Endprodukt eine andere Art von Kommunikation ankurbeln könne zwischen Angehörigen oder Betreuenden und Menschen mit Demenz. Die Schwester einer Teilnehmerin verspricht zum Beispiel, beim nächsten Mal ein Foto von ihrer Schwester mitzubringen, das sie auf einer Schiffsreise zeigt. «So ziehen die Geschichten weitere Kreise», sagt Ingenhoest.
Kein Richtig, kein Falsch
Betreuenden und auch Angehörigen wird beigebracht, dass offene Fragen Menschen mit Demenz verunsichern können. Die Moderatorin stellt den Anwesenden aber dauernd Fragen und knüpft an deren Antworten, die sie häufig anerkennend wiederholt, wiederum Fragen an. «Wir machen tatsächlich das Gegenteil von dem, was man in der Ausbildung lernt», sagt Ingenhoest. Wichtig sei aber, dass sie dies in einem klar definierten Rahmen täten, «in dem es kein Richtig oder Falsch gibt».
Die Runde hat jetzt ziemlich Fahrt aufgenommen. Einer der Herren imitiert Kapitäne, die sich von Schiff zu Schiff grüssen. Alle lachen. Auf die Frage, was die Menschen auf dem Schiff denn in der Nacht täten, sagt eine Frau: «singen». Es ist dieselbe, die zu Beginn noch gesagt hat, ihr Hirn gebe nichts preis und sie sei halt «ballaballa». Die Leute auf dem Schiff würden singen, um ihre Angst vor der Dunkelheit zu vertreiben. «Was singen sie denn?», fragt die Moderatorin. «S isch mer alles eis Ding», sagt die Teilnehmerin und stimmt sogleich die erste Strophe an. Sie singt sie fehlerfrei durch.