Menschen brauchen mehr als Körperpflege und Nahrung. Dass die Betreuung – anders als medizinische Pflege – im schweizerischen Gesundheitssystem nicht vorgesehen ist, bereitet darum Sorgen. Denn Betreuung brauchen viele Menschen in der Schweiz, und es werden nicht weniger. Über diese Herausforderung sprachen am «Tag für pflegende und betreuende Angehörige» Betroffene, Fachpersonen und Politiker*innen im Berner Inselspital unter dem Titel «Alt werden und selbstbestimmt bleiben – am liebsten daheim. Was ältere Menschen und ihre Angehörigen brauchen». Der Anlass wurde vom Entlastungsdienst Schweiz veranstaltet.
«Betreuung lässt sich nicht in einzelnen Handlungen beschreiben.» Soziologe Riccardo Pardini
«Betreuung ist Beziehungsarbeit und besitzt eine eigene Zeitdimension», sagte der Soziologe Riccardo Pardini in seinen Ausführungen. «Sie lässt sich nicht in einzelnen Handlungen beschreiben und somit auch nicht als bestimmte Leistungen definieren.» Der Soziologe forscht zu Alter(n) und soziale Sicherheit und ist Mitautor der Studie «Gute Betreuung im Alter» der Paul Schiller Stiftung. Es fehle an politischen Rahmenbedingungen, die es den Angehörigen ermöglichten, Betreuung zu leisten, ohne ihr eigenes Leben oder ihre Gesundheit zu vernachlässigen. Man sollte deshalb darüber nachdenken, ob Betreuung als Recht für alle gelten sollte, so Pardini.
Grenzen sehen und zulassen
Dass betreuende Angehörige nicht allein gelassen werden dürfen, wurde auch im anschliessenden Podiumsgespräch deutlich. Alt-Ständerätin Christine Egerszegi sagte: «Mitten in der Betreuung die eigenen Grenzen zu sehen und auch zuzulassen, ist ein sehr schwieriger Schritt. Aber Unterstützung annehmen ist unglaublich wichtig.» Marianne Schütz, die ihre Schwiegermutter und ihren schwer behinderten Bruder betreut, hat über die Jahre ebendies gelernt. «Ich bin die einzige Schwiegertochter und die einzige Schwester in unserer Familie, es liegt auf meinen Schultern. Ich mache das gerne. Aber es braucht einfach Unterstützung.»
«Wir sind alle betroffen.» Bundesrat Alain Berset
Auch Bundesrat Alain Berset schloss sich in seinem Referat den persönlichen Voten an. Er kenne die Situation, wenn ein Familienmitglied Betreuung brauche – und er wisse, dass er auch in Zukunft wieder in eine solche Situation kommen werde. «Das ist ja der Punkt bei diesem Thema: Wir sind alle betroffen oder werden in Zukunft betroffen sein», so Berset. Er betonte, die Leistung betreuender Angehöriger sei von unschätzbarem Wert. Nicht nur für die Betreuten, sondern auch für das Gesundheitssystem und die Gesellschaft. Betreuende Angehörige seien zudem oft doppelt belastet, wenn sie beispielsweise einer Erwerbsarbeit nachgingen. «Höchste Zeit also, diesen Heldinnen und Helden des Alltags gebührend zu danken.» Mit dem Tag für pflegende und betreuende Angehörige schüfen Organisationen wie der Entlastungsdienst Schweiz mehr Anerkennung für diesen grossen Einsatz.
Als Gesellschaft müssten wir uns die Frage stellen: Was gilt bei uns als Arbeit und wie wird sie wertgeschätzt? Auch seien die Rahmendbedingungen für die betreuenden Angehörigen zu verbessern, so Berset. «Dazu ist ein erster grosser Schritt getan mit dem neuen Bundesgesetz zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung, das vom Bundesrat vorgeschlagen und vom Nationalrat gutgeheissen wurde.» Die Debatte im Ständerat steht noch aus.
Die am Anlass von verschiedenen Seiten formulierten Forderungen nach besserer Unterstützung und besseren Rahmendbedingungen für betreuende Angehörige unterstützt der Entlastungsdienst Schweiz.
80 Millionen Stunden unbezahlte Arbeit
Laut Bundesamt für Statistik leisteten Angehörige in der Schweiz im Jahr 2016 insgesamt 80 Millionen Stunden unbezahlte Arbeit für die Betreuung und Pflege von nahestehenden Personen. Es ist klar: Ohne betreuende Angehörige wäre vieles undenkbar – in der Familie ebenso wie in der Gesellschaft. Darum fanden gestern, neben dem Grossanlass in Bern, zahlreiche Aktionen auf den Strassen und in den Gemeindesälen verschiedener Regionen statt. Die Anerkennung für die Leistung betreuender Angehöriger sollte damit ins Scheinwerferlicht gerückt werden.