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Palliative Care im Gefängnis – wie geht das?

Palliative Care im Gefängnis – wie geht das?

Dr. theol. Frank Stüfen ist unter anderem Gefängnisseelsorger in der JVA Pöschwies/Zürich.

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04. Juli 2022
Palliative Care und Spiritual Care sind auch in Gefängnissen vermehrt ein Thema. Dies unter anderem, weil die Häftlinge immer älter werden. Ein Gespräch mit Dr. theol. Frank Stüfen, Gefängnisseelsorger in der JVA Pöschwies/Zürich und Repräsentant der Weltkonferenz der Gefängnisseelsorge bei der UN in Genf, Wien und New York.
Als Gefängnisseelsorger kümmern Sie sich um die spirituelle Begleitung der Inhaftierten. In welcher Form tun Sie dies?
Unser wichtigstes Angebot sind die Einzelgespräche. Daneben halten wir Gottesdienste und Feiern ab. Und wenn jemand im Gefängnis stirbt, dann bieten wir eine Trauerfeier für die Insassen und das Personal an. Daneben haben wir kleine Veranstaltungen wie zum Beispiel Konzerte.

Werden diese Angebote regelmässig genutzt? Viele Inhaftierte hatten zuvor vielleicht keine Beziehung zum christlichen Glauben.
Ein Gefängnis ist ein multikultureller und multireligiöser Ort. In der Pöschwies leben Menschen aus 60 verschiedenen Nationen, entsprechend sind auch die religiösen Traditionen unterschiedlich. In unserem Team arbeiten reformierte und katholische Seelsorger, ein christlich-orthodoxer Priester, ein orthodoxer Rabbiner und Imame. Bei Bedarf ziehen wir einen buddhistischen Mönch oder einen Hindupriester hinzu. Unsere Angebote werden gut genutzt – besonders der wöchentliche Gottesdienst und das Freitagsgebet.

Sie waren zuvor Gemeindepfarrer. Sind im Gefängnis ähnlich nahe Beziehungen möglich? Lassen die Häftlinge den Pfarrer an sich ran?
Ich habe unter anderem in die Gefängnisseelsorge gewechselt, weil mir beim ersten Gespräch, das ich je in einem Gefängnis geführt habe, klar wurde, wie viel stärker sich die Menschen hier auf Seelsorge einlassen. Das geht hinter Mauern viel schneller. Wenn man bereits in Haft sitzt, dann hat man nicht mehr viel zu verstecken. Dann kann man offen und ehrlich zueinander sein und legt die Probleme recht schnell auf den Tisch. Das ist es, was mich an meiner Arbeit so begeistert.

Palliative Care und Spiritual Care werden im Gefängnis vermehrt ein Thema, weil die Häftlinge immer älter werden – dies, weil die Gesellschaft altert und aufgrund von vermehrten Verwahrungen. So gibt es in der Pöschwies seit einiger Zeit eine spezielle Abteilung für alte und kranke Häftlinge.
Die Abteilung ist da, um alte und kranke Menschen zu betreuen – aber auch Menschen mit hohen psychischen und sozialen Belastungen. Es ist eine geschlossene Gruppe im geschlossenen Vollzug. Wenn jemand aber todkrank ist, dann ist er meist nicht mehr im normalen Strafvollzug. Da schaut man, dass er zum Beispiel in die Überwachungsstation des Berner Inselspitals überführt werden kann. Dort sind einerseits die Sicherheit und anderseits die medizinische und palliative Betreuung gewährleistet. Schwer demente Menschen, die mehr Pflege benötigen, als wir sie im Pöschwies bieten können, werden in die Pflegeabteilung in Bauma überführt. Auch dort sind die nötigen Sicherheitsvorkehrungen vorhanden.

Palliative Care im medizinischen Sinne können Sie im Gefängnis selbst nur beschränkt anbieten?
Ja, es gibt im geschlossenen Vollzug eine Grenze, was Palliative Care betrifft. Wir haben einen tollen Arztdienst, in dem auch Pflegende mitarbeiten. Die sind recht lange bei den Patienten vor Ort, aber eine Rundumbetreuung, welche es in der Palliativbetreuung bräuchte, haben wir nicht.

Das Schwergewicht liegt bei der Spiritual Care.
Richtig. Da sind wir mit unserer Arbeit sehr gefragt.

Haben die Menschen, die das Lebensende vor Augen haben, spezielle Anliegen an die Seelsorgenden?
Nicht zwingend. Am Lebensende wollen die Menschen auf ihr Leben zurückblicken – ob drinnen oder draussen. Der Rückblick ist im Gefängnis natürlich dramatischer. Sie schauen auf eine Zeit zurück, die mindestens mit einem starken biografischen Bruch belastet ist. In Bezug auf die nahe Zukunft lauten die Fragen: Wie geht es mit mir weiter? Und was ist mit meinen Angehörigen? Gerade die zweite Frage ist draussen viel einfacher zu beantworten – sie rufen beispielsweise ihren Bruder einfach an. Das können sie im Gefängnis unter Umständen nicht.

Geht es auch darum, noch etwas in Ordnung zu bringen? Vielleicht Schuld abzuladen?
Das ist unterschiedlich. Je schwerer ein Delikt gewesen ist, umso schamhafter ist es auch. Umso mehr wehrt sich der Häftling, dass er ganz und gar allein dafür verantwortlich ist. Diese Abwehr dann gerade im eigenen Sterbeprozess abzulegen, ist schwierig. Ich lasse das auch so stehen, denn ich glaube, wenn es in die letzte Lebensphase geht, dann müssen wir diesen Selbstschutz respektieren.

Ist Versöhnung ein Thema?
Versöhnung mit den Opfern oder den Opferfamilien dürfen die Gefangenen nicht suchen – ein Täter-Opfer-Austausch ist im Vollzug nicht vorgesehen. Das hat damit zu tun, dass man Angst vor Retraumatisierungen hat. Schreibt der Täter am Lebensende einen Brief an das Opfer oder an dessen Familie, kann das ein solches Trauma wieder auslösen. Versöhnung auf diese Art scheidet also aus. Der Fokus im Gefängnis liegt auf der Persönlichkeit des Täters. Die ganze Therapie zielt darauf ab, dass der Mensch lernt, was seine Risikofaktoren sind und wie er mit diesen umgehen kann, damit es keine weiteren Opfer mehr gibt.

Und eine Versöhnung mit Gott?
Die Versöhnung mit Gott kann man sich vorstellen und diese passiert ja auch immer wieder in Gottesdiensten. Aber die Versöhnung mit sich selber, das scheint mir unsinnig. Wir brauchen dafür Resonanz von aussen – allein geht das nicht. Und deshalb ist es Aufgabe der Seelsorge, auf versöhnliche Aspekte hinzuweisen und so Versöhnungsprozesse anzustossen. Das kann beispielsweise über Biografie-Arbeit geschehen.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Zum Beispiel der Faktor Vaterbeziehung. Ein missbräuchlicher, gewalttätiger, drogen- oder alkoholkranker Vater kann natürlich ganz viele Auswirkungen haben auf das, was später mal mit seinem Sohn passiert. Und als einen Hinweis auf das Ganze zu sagen, «das ist nicht in Ordnung, was damals geschehen ist», hat einen versöhnlichen Aspekt mit der eigenen Biografie.

Betreuen Sie den Gefangenen in seinen letzten Lebensstunden, auch wenn er ausserhalb des Gefängnisses ist – etwa im Krankenhaus oder in einer Pflegeeinrichtung?
Egal ob im Gefängnis, auf einer Pflegestation oder im Spital: Wenn ich weiss, dass jemand am Sterben ist und meine Betreuung wünscht, dann fahre ich auch ins Spital nach Bern, setzte mich an sein Bett. In diesen Institutionen gibt es zwar auch ausgezeichnete Seelsorgende. Aber ich bin da, wenn ein Häftling nach mir sucht – wenn es sein soll bis zum Schluss.
Palliative zh+sh / Bettina Weissenbrunner