Man soll sich nicht auf das Bett des Kranken setzen, aber auf Augenhöhe mit ihm sein. Man soll sich selbst zurücknehmen, ihm zuhören und sich ihm zuwenden. Man soll ihn als Person sehen, als Menschen und nicht als Patienten. Stephan M. Probst, Palliativmediziner in Bielefeld, hat das Buch «Bikkur Cholim. Die Begleitung Kranker und Sterbender im Judentum» herausgegeben. Er schreibt, dass die jahrhundertealte jüdische Tradition bereits viele Grundsätze enthalte, welche die Palliativmedizin ausmachten, «die als etwas scheinbar ganz Neues und Subversives in den letzten Jahrzehnten ‹erfunden› wurden und deren Integration in die Behandlung Schwerkranker und Sterbender unser Gesundheitswesen aus den […] Fehlentwicklungen herausführen soll».
Jüdische Perspektiven auf das Lebensende
Nach dem Gebot des Bikkur Cholim gibt es eine kollektive Verpflichtung, Schwerkranke und Sterbende ehrenamtlich und nicht-ärztlich zu begleiten, indem man sie im Krankenhaus, im Pflegeheim oder zu Hause besucht. Sie sollen nicht an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Dieses Gebot habe eine jüdische «Kultur des mitmenschlichen Umgangs mit gebrechlichen, alten und kranken Menschen» entstehen lassen, wie es im Vorwort des besprochenen Buches heisst. Im April 2017 hat im Jüdischen Krankenhaus Berlin das Seminar «End-of-Life: Jewish Perspectives» stattgefunden. Im vorliegenden Buch haben die Referentinnen und Referenten ihre Vorträge und Workshops zusammengefasst. In dieser Besprechung soll nur auf den Text des Herausgebers, Stephan M. Probst, eingegangen werden, da er die zentralen Aussagen bündelt.
Die eingangs zitierten Regeln für den Krankenbesuch bestehen tatsächlich. Der Talmud, eines der bedeutendsten Schriftwerke des Judentums, macht diese zum Teil sehr konkreten Vorgaben, nur schon für die nonverbale Kommunikation. Wie Probst in seinem Beitrag schreibt, dienen diese Regeln dazu, Übergriffe zu vermeiden. Denn jedes fürsorgliche Engagement beinhaltet die Gefahr, die Autonomie des Fürsorge-Empfangenden zu verletzen. Wer sich zum Beispiel auf das Krankenbett setzt, dringt in die Privatsphäre des Patienten ein.
Es lohnt sich unbedingt, Ehrenamtliche aus den Bikkur-Cholim-Gruppen enger mit Ärzten und Pflegekräften ins Gespräch zu bringen.»
Stephan M. Probst, Palliativmediziner
Ausserdem wird es als selbstverständlich vorausgesetzt, dass im Gespräch mit dem Kranken auch emotionale und spirituelle Fragen besprochen werden. Deshalb ergänze die Kommunikation, wie sie im Bikkur Cholim vorgesehen sei, die professionelle Begleitung durch Ärzte und andere Fachleute ideal, so Probst. «Es lohnt sich unbedingt, Ehrenamtliche aus den Bikkur-Cholim-Gruppen der Gemeinden enger mit Ärzten und Pflegekräften ins Gespräch zu bringen.»
Bikkur Cholim nimmt offenbar auch Vieles vorweg, was die Dignity Therapy vorschlägt. Die vom Psychologen Harvey Max Chochinov entwickelte Interventionsform zielt darauf ab, würdebewahrende Ressourcen der sterbenden Person zu aktivieren: Indem zusammen mit ihr Rückschau auf das Leben gehalten und eine Art Vermächtnis für die Nachwelt verfasst wird. Auch im Bikkur Cholim seien diese Ressourcen wichtig, so Probst. Der kranke Mensch solle sich selbst bleiben und wenn möglich ebenfalls seine Rolle behalten können. Dazu passt eine weitere Regel, nämlich dass man nur ausnahmsweise über die Krankheit und den Verlust von Fähigkeiten sprechen soll. «Nämlich nur dann, wenn der Kranke von sich aus dieses Thema anspricht und ausdrücklich darüber reden möchte.»
Disput am Sterbebett
Probst zitiert eine Anekdote, wonach ein Rabbiner einen anderen Rabbiner – der dem Tode schon nahe aber bei vollem Bewusstsein war – auf der Intensivstation besuchte. Der Besucher entschuldigte sich beim Sterbenden für eine Kritik, die er einst in einer fachlich-religiösen Diskussion geäussert hatte. Der Patient erwiderte daraufhin, der Andere müsse sich nicht entschuldigen, es sei ja um eine inhaltliche Auslegungsfrage gegangen, betonte mit letzten Kräften aber noch einmal vehement seine eigenen Argumente, weshalb diese richtig seien und der Andere irre. Der Besucher «erkannte also die ‹Essenz› des kranken Rabbiners und sprach ihn in der Kontinuität dessen an, was immer seine Persönlichkeit ausgemacht hatte.»
Auch Ansätze des Advance Care Planning seien in der jüdischen Tradition des Krankenbesuchs zu finden, schreibt Probst. Es sei wichtig, dass die Kranken in einem längeren und gut begleiteten Entscheidungsprozess Wünsche und Ansichten formulieren könnten, «die ihnen und ihrem Umfeld letztlich die Frage beantworten, wie und wo sie sterben möchten».
Die Parallelen, die mehrere der Autorinnen und Autoren zwischen der jüdischen Tradition und der Palliative Care ziehen, sind tatsächlich verblüffend. Und wenn das Gebot des Krankenbesuchs sehr weit verbreitet wäre, müsste man sich um die Kranken und Sterbenden in der jüdischen Tradition keine Sorgen machen.
«Es gibt nur wenige jüdische Gemeinden mit einer ehrenamtlich arbeitenden Bikkur-Cholim-Gruppe.»
Larissa Karwin, Sozialpädagogin
Ein Beitrag im Buch gibt jedoch einen Hinweis darauf, dass auch in jüdischen Gemeinschaften Menschen durch die Maschen zu fallen drohen. Eine der Autorinnen, Larissa Karwin, schreibt nämlich darüber, wie Bikkur-Cholim-Gruppen aufgebaut werden könnten. Sie arbeitet als Sozialpädagogin bei der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST).
Die jüdische Bevölkerung sei demselben demografischen Wandel ausgesetzt wie die übrigen Bewohnerinnen und Bewohner Deutschlands: Der Anteil der über 60-Jährigen nimmt zu, von 41 Prozent 2009 auf 47 Prozent sechs Jahre später. Diese Gruppe habe mit den psychosozialen Folgen ihrer Migration zu kämpfen und ihr drohe die Isolation. Deshalb steige der Bedarf an zwischenmenschlicher Hilfe und Unterstützung noch stärker an, und das werde auch in Zukunft so bleiben. Karwin schreibt: «Es gibt nur wenige jüdische Gemeinden mit einer ehrenamtlich arbeitenden Bikkur-Cholim-Gruppe.» Die ZWST bietet aus diesem Grund Seminare an, um die jüdischen Gemeinden in Deutschland beim Aufbau solcher Gruppen zu unterstützen.