Was kann Physiotherapie in der Palliative Care bewirken?
Frau Gloor, was ist das Ziel der Physiotherapie innerhalb der Palliative Care?
Das sind die ähnlichen Ziele wie bei den anderen Disziplinen der Palliative Care. Mit meiner Tätigkeit möchte ich die Lebenszufriedenheit einer schwerkranken Person steigern. Schmerzen lindern ist ein zentraler Punkt, Autonomie und Selbständigkeit in den alltäglichen Funktionen fördern und Sicherheit bieten. Dafür braucht es Empathie, das Achten der Würde eines Menschen und dies unbedingt unter Einbezug des persönlichen Umfeldes.
Zu welchem Zeitpunkt der Krankheit macht es Sinn, Physiotherapie einzusetzen?
Das kommt auf die Diagnose an. Hat jemand eine neurodegenerative Krankheit, dann macht es Sinn, die Physiotherapie ab der Diagnosestellung miteinzubeziehen. Zum Beispiel ist es bei ALS oder Parkinson wichtig, dass wir möglichst früh mit der Therapie beginnen und dadurch die Symptome erkennen und behandeln können. Bei anderen Krankheiten wie Krebs, Polyneuropathien, Lungenerkrankungen oder Krankheiten in Kombination mit Demenz kommt es sehr darauf an, welche Leiden die Krankheit verursacht. Dort kommen wir als Physiotherapeutinnen vor allem zum Einsatz, wenn die Patientin, der Patient zunehmend an Schmerzen und unter Einschränkungen in der Alltagsbewältigung leidet.
Welche belastenden Symptome treffen Sie am häufigsten an?
Viele Palliativpatienten leiden an Schmerzen, Funktionsstörungen oder Atemnot. Aber auch bei Angst und Fatigue wirkt Physiotherapie unterstützend, ebenso bei Verstopfung oder Ödemen. Eine wichtige Hilfe ist unsere Behandlung bei Schluckstörungen.
Was können Sie gegen die jeweiligen Symptome tun?
An erster Stelle stehen meist die Schmerzen. Als ursprünglich manuelle Therapeutin untersuche ich den Palliativpatienten genauso wie einen anderen Schmerzpatienten. Ich versuche, die Ursache für die Schmerzen herauszufinden. Gibt es ein Rückenproblem infolge der Grunderkrankung? Da beziehe ich mich unter anderem auch auf die Informationen der behandelnden Ärzte und Pflegenden, damit meine physiotherapeutische Behandlung gezielt auf den aktuellen Fall ausgerichtet ist. Auch Bewegung hilft, Schmerzen zu lindern. Massage, Wärmeanwendungen oder Lymphdrainage sind weitere Möglichkeiten. Häufig entscheide ich auch über konkrete Hilfsmittel. Was ist gegenwärtig am nötigsten, damit sich die Person mit weniger Schmerzen bewegen kann? Vielleicht ein Rollator?
Palliative Physiotherapie bietet also viel mehr als klassische Massage oder körperliche Übungen.
Ja, gewiss. Wenn ich mich als Therapeutin bemühe, mich in die Situation und das Leben der Betroffenen hineinzudenken und hineinzufühlen, dann hat man eine grosse Anzahl an Möglichkeiten.
Wie wichtig ist die Fähigkeit, gut zuzuhören und vielleicht auch nonverbal zu kommunizieren?
Als Physiotherapeutin habe ich bei einem Palliativpatienten, einer Palliativpatientin dank der 45-minütigen Sitzung Zeit, die Betroffenen gut zu beobachten, mit ihnen zu reden und dadurch Emotionen zu erkennen. Emotionen wie etwa Angst oder Wut. Gerade aus diesen Gefühlen heraus treten häufig Schmerzen auf, ganz wie es das Modell Total Pain aufzeigt. Ich will auf die Patientin oder den Patienten eingehen und im Gespräch herausfinden, wie ich ihm Erleichterung verschaffen kann. Wenn ich nur nonverbal kommunizieren kann, dann schaue ich genau hin und beobachte, wie sich jemand bewegt und auf meine Handlungen reagiert, damit ich Schmerzen, Bewegungseinschränkung, Atemnot oder Angst erkenne.
Was können Sie im eigentlichen Sterbeprozess, also in den letzten Tagen oder Stunden, noch bewirken?
Dann ist es besonders wichtig, dass ich intensiv beobachte, spüre und höre. Wenn ich die Person schon länger begleitet habe, dann weiss ich, was sie gerne mag. Ich ziehe diese Vorlieben in die Behandlung ein, sei es nun über Gerüche, Berührungen oder ein offenes Fenster im Zimmer. Sanfte Bewegungen werden oft geschätzt, denn die Gelenke können wegen der Immobilität Schmerzen verursachen und brauchen immer mal wieder neue Positionen. Ich kann eine Atemerleichterung erreichen oder sanfte Massagen im Gesicht oder an den Füssen anwenden – das beruhigt die betroffenen Personen. Kontraktur- und Dekubitusprophylaxe sind aus medizinischer Sicht wichtig, ebenso die Pneumonieprophylaxe. Immer ein Thema in der letzten Phase ist die Lagerung. Das ist etwas, bei dem die Therapeutin Angehörige einbeziehen kann, wenn sie diese entsprechend instruiert hat. Überhaupt ist es wichtig, den Angehörigen zu zeigen, was sie tun können. Viele sind dafür und allgemein für Erklärungen sehr dankbar.
Ihre Patientinnen und Patienten können auf einmal in einem völlig anderen Zustand sein, als sie es bei Ihrem letzten Besuch waren. Wie gehen Sie damit um?
Das ist nicht immer einfach. Am Anfang haben mich solche Situationen etwas gestresst. Was erwartet mich? Was sehe ich? Was fühle ich? Mit mehr Erfahrung konnte ich einerseits besser auf die individuelle Situation eingehen und mich andererseits auch abgrenzen. Trotzdem hallt in mir auch heute noch das eine oder andere Erlebnis nach.
Wie arbeiten Sie mit anderen Berufsgruppen wie Ärzteschaft und Pflegefachkräften zusammen?
Da ich hauptsächlich selbständig arbeite, zu den Leuten nachhause gehe und nicht fix in ein Team eingebunden bin, muss ich diesen Austausch suchen. Dies funktioniert recht gut, ist aber auch aufwendig. Ich schätze das Interdisziplinäre in der Palliative Care sehr. Natürlich komme ich nicht ständig mit allen Disziplinen in Berührung, aber per E-Mail oder Telefon bin ich mit ihnen in Kontakt. Am besten geht das über die Pflegenden. Diese weisen auch die Patientinnen und Patienten auf die Möglichkeit von Physiotherapie hin.
Sie arbeiten seit 10 Jahren in der Palliative Care. Gibt es ein Erlebnis, das ihnen besonders nahegegangen ist?
Da gibt es einige – aber eines möchte ich hier erwähnen. Eine rund 90-jährige Dame, die ich schon länger begleitet hatte, durfte ich in den letzten Lebenstagen nochmal besuchen. Nach einem Sturz ist sie bettlägerig geworden und war auch nicht mehr ansprechbar. Kurz vor ihrem Tod war ich zum letzten Mal bei ihr und behandelte sie ganz sanft. In diesem Moment trat ein grosser Friede ein. Das ist ein eindrückliches Erlebnis und ein unbeschreibliches Gefühl. Diesen Augenblick erleben zu dürfen, war ganz besonders, und ich bin dankbar, dass solche Erfahrungen in meinem Berufsleben möglich sind.
Interview: palliative zh+sh / Bettina Weissenbrunner